"Die In­itia­ti­ve löst kein einziges Problem"

Der Landbote / Zürichsee Zeitung; Philipp Hufschmid
Der Landbote: "Bundesrätin Simonetta Sommaruga plädiert für ein Nein zur SVP-In­itia­ti­ve 'Gegen Masseneinwanderung'. Gelöst werden könnten die Probleme laut der Justizministerin nur mit anderen Lösungen."

Frau Bundesrätin, die jährliche Nettozuwanderung betrug in den letzten Jahren zwischen 70‘000 und 80‘000 Personen. Wie lange kann das so weitergehen?
Genau diese Frage haben sich die Menschen in den 1960er-Jahren auch gestellt. Damals war die Zuwanderung höher als heute. Doch schon wenig später war die Situation ganz anders: Die Konjunktur war schlecht, die Arbeitslosigkeit hoch, die Zuwanderung tief. Dieses Beispiel zeigt, dass die Zuwanderung konjunkturabhängig ist. Und eine Hochkonjunktur dauert nicht über Jahrzehnte.

Sie vertrauen darauf, dass es rechtzeitig zu einem Wirtschaftsabschwung kommt. Wenn die Boomphase aber noch einige Jahre andauert, stellt sich irgendwann doch die Frage, wo die Grenzen der Zuwanderung liegen.
Niemand erhofft sich eine schlechte Konjunktur, wie wir sie zuletzt in den 90er-Jahren erlebt haben: kaum Wachstum, eine beunruhigend hohe Arbeitslosenquote und eine tiefe Zuwanderung. Auch dieses Beispiel zeigt den direkten Zusammenhang zwischen der Konjunktur und der Zuwanderung. Wichtig ist, dass wir unser Wachstum gestalten. Wir sollten darüber sprechen, wie sich ein überhitztes Wachstum vermeiden und ein qualitatives Wachstum fördern lässt. Zu meinen, Kontingente würden die Zuwanderung automatisch bremsen, ist eine Illusion. Wir hatten in den 1960er-Jahren eine höhere Zuwanderung als heute, und zwar mit Kontingenten. Die Initiative, über die wir am 9. Februar abstimmen, löst kein einziges Problem.

Vielen Menschen macht die Zuwanderung aber bereits jetzt Sorgen. Nimmt die Politik diese Sorgen ernst?
Ja. Diese Bedenken und Ängste sind übrigens nicht neu. Sie haben sich immer dann eingestellt, wenn die Bevölkerung rasch zugenommen hat. Das war auch Ende der 60er-Jahre so, als die Schwarzenbach-Initiative eingereicht wurde, die dann 1970 abgelehnt wurde. Solche Bedenken sind auch heute vorhanden. Ein konkretes Beispiel ist die Befürchtung, dass unser Land zubetoniert wird. Gerade der Kanton Zürich hat darauf aber mit der Annahme der Kulturlandinitiative eine kluge Antwort gegeben. Ein gewisses Wachstum bleibt möglich, aber nicht auf Kosten des Kulturlandes. Das ist eine Antwort, wie sie die Bevölkerung erwartet. In der Initiative der SVP steht über den Schutz des Kulturlandes oder der Arbeitsbedingungen aber kein Wort.

Seit Einführung der Personenfreizügigkeit wurden viele Stellen geschaffen, die oft mit Fachkräften aus dem Ausland besetzt wurden. Weshalb brauchen wir denn dieses Wachstum? Die Unternehmen könnten doch auch dorthin gehen, wo die Fachkräfte sind.
Die Schweizer Wirtschaft gehört in die Schweiz. Es gibt Arbeitsplätze, die man nicht einfach auslagern kann. Denken Sie an die Spitäler, an die Landwirtschaft, aber auch an die Universitäten. Zudem: Wenn Firmen ins Ausland gehen, gehen auch Stellen für Schweizer Arbeitskräfte verloren. Deshalb haben wir ein Interesse, dass die Firmen in der Schweiz bleiben.

Die Initiative fordert die Einführung von Kontingenten. Wenn diese hoch genug angesetzt werden, wäre das doch gar nicht so schlimm.
Erstens wäre es sicher nicht im Sinn der Initianten, wenn man die Kontingente einfach so hoch ansetzen würde, dass die Zuwanderung gleich hoch wäre wie heute oder noch höher. Zweitens verlangt die Initiative einen Schweizervorrang. Das heisst: Will ein Unternehmen eine ausländische Arbeitskraft einstellen, muss es zuerst beweisen, dass es einen Schweizer oder eine Schweizerin gesucht, aber nicht gefunden hat. Man muss sich diese Bürokratie vorstellen, und die Folgen gerade für die kleinen und mittleren Unternehmen. Die Konzerne können sich das leisten. Aber die KMU? Das ist mit viel Aufwand und massiven Kosten verbunden. Und es bedeutet für die Betriebe grosse Unsicherheit, weil sie bis zum Schluss nicht wissen, ob die Kontingente schon ausgeschöpft sind oder nicht.

Ein solches Bewilligungsverfahren lässt sich doch sicher effizient gestalten.
Die Initiative verlangt für jede einzelne Stelle den Nachweis, dass im Inland keine passende Arbeitskraft gefunden wurde. Wie soll das effizient gehen? Dazu kommt, dass die Initiative auch Kontingente für Asylbewerber und Grenzgänger will. Das bringt den Betrieben zusätzlich Unsicherheit, weil sie nicht wissen, wie hoch die Kontingente für die Arbeitskräfte im nächsten Jahr sind. Man stelle sich einmal vor, was passiert, wenn es eine Rekordernte gibt, die Kontingente aber im Vorjahr bewilligt wurden, als niemand eine Rekordernte erwartete. Was machen dann die Bauern?

Nicht nur in Grenzregionen klagen Einheimische darüber, dass Ausländer ihnen die Arbeitsplätze wegnähmen, weil diese für tiefere Löhne zu arbeiten bereit seien. Gegen Lohndumping wird offenbar zu wenig unternommen.
Es ist richtig, dass gerade in Grenzregionen der Druck auf den Arbeitsmarkt gross ist. Genau deshalb haben wir die flankierenden Massnahmen von Anfang an eingeführt. Es ist der klare Wille der Bevölkerung und des Bundesrats, dass in der Schweiz Schweizer Löhne bezahlt werden. Die Öffnung des Arbeitsmarktes gegenüber Europa darf nicht dazu führen, dass die guten Arbeitsbedingungen in der Schweiz unter Druck kommen. Jedes Mal, wenn sich Probleme gezeigt haben, hat der Bundesrat reagiert, zum Beispiel bei der Scheinselbstständigkeit oder der Solidarhaftung. Das zeigt, dass die Politik bereit und fähig ist zu reagieren. Ich appelliere aber auch an die Wirtschaft. Diese steht gegenüber der Schweizer Bevölkerung in der Verantwortung, dass sie nur Fachkräfte in die Schweiz holt, die sie hier nicht bekommt.

Braucht es nicht zusätzliche Massnahmen, beispielsweise im Tessin?
In den Grenzregionen braucht es vor allem mehr und strengere Kontrollen. Hier haben auch die Kantone und die Sozialpartner eine wichtige Aufgabe. Sie organisieren die Kontrollen, sie müssen gegen Schwarzarbeit vorgehen und sie müssen dafür sorgen, dass Missbräuche verhindert werden. Wenn eine Verschärfung der flankierenden Massnahmen nötig sein sollte, werden wir dazu Hand bieten. Es ist an den Sozialpartnern, entsprechende Vorschläge zu machen.

Der nächste Abschwung kommt bestimmt und dürfte auch Zuwanderern die Stelle kosten. Da kommen doch massive Kosten auf die Arbeitslosenversicherung zu.
Jeder Abschwung ist mit Problemen verbunden. Das war auch im Kontingentsystem so, das die Initiative jetzt wieder einführen will. Die Initiative enthält aber kein Rezept, wie man einen Abschwung besser meistert. Umgekehrt hat die Personenfreizügigkeit dazu geführt, dass deutlich mehr gut qualifizierte Arbeitskräfte in die Schweiz gekommen sind, weil es einfacher möglich ist, diese zu rekrutieren. Unter dem Kontingentsystem hatten wir einen viel höheren Anteil von beruflich schlecht qualifizierten Personen, die dann beim Konjunktureinbruch vermehrt in der Arbeitslosenversicherung landeten. Wir hatten zum Beispiel 1997, also vor Einführung der Personenfreizügigkeit und mit Kontingenten, über 5 Prozent Arbeitslose. Seit der Einführung der Personenfreizügigkeit haben wir dagegen eine sehr tiefe Arbeitslosenquote. Diesbezüglich sind wir weltweit top. Und wir haben auch eine sehr tiefe Sozialhilfequote. Das muss man zur Kenntnis nehmen.

Letzte Änderung 25.01.2014

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