Referat von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf
Bern, 04.10.2010 - Pressekonferenz des Bundesrates zur "Ausschaffungsinitiative" und zum Gegenentwurf. Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrte Damen und Herren
Zur Ausgangslage:
Die Ausschaffungsinitiative wurde am 15. Februar 2008 mit rund 210'000 Unterschriften eingereicht. Der Bundesrat hat die Botschaft zu dieser Initiative im Juni 2009 verabschiedet. Gleichzeitig unterbreitete er dem Parlament einen indirekten Gegenvorschlag, der eine Änderung des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG) vorsieht.
Eine bessere Bekämpfung der Ausländerkriminalität ist ein wichtiges Anliegen der Bevölkerung, aber natürlich auch der Behörden. Der Bundesrat erachtete es als notwendig, eine Lösung vorzulegen, die die tatsächlichen Probleme anpackt und die bereits vorhersehbaren Vollzugsschwierigkeiten der Ausschaffungsinitiative vermeidet. Das Ziel ist eine einheitlichere und konsequentere Praxis der Kantone bei der Wegweisung von straffälligen Ausländerinnen und Ausländern.
Der Ständerat wies in der Wintersession 2009 die Vorlage an die Staatspolitische Kommission zurück mit dem Auftrag, die Gültigkeit der Initiative sowie die Möglichkeit eines direkten Gegenvorschlags auf Verfassungsstufe nochmals vertieft zu prüfen.
In der Folge bestätigte die SPK des Ständerats nach der Anhörung von Experten die Gültigkeit der Volksinitiative und arbeitete zudem einen direkten Gegenentwurf auf Verfassungsstufe aus, der im Juni 2010 vom Parlament verabschiedet wurde. Dieser direkte Gegenentwurf entspricht grundsätzlich dem Vorschlag des Bundesrates. Er wurde jedoch insbesondere mit einer Bestimmung über die Integration ergänzt. Aus rechtlicher Sicht wäre auch ein Gegenvorschlag auf Gesetzesstufe möglich gewesen. Der Bundesrat unterstützt jedoch den Gegenentwurf des Parlaments. Er ermöglicht den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern einen besseren, direkten Vergleich zwischen der Initiative und dem Lösungsvorschlag des Parlaments.
Am 28. November 2010 stimmen wir also über die Ausschaffung krimineller Ausländerinnen und Ausländer ab. Lassen Sie mich im Folgenden zuerst auf die Ausschaffungsinitiative und anschliessend auf den Gegenentwurf des Parlaments eingehen. Sodann werde ich die Unterschiede des Gegenentwurfs erklären und schliesslich die beiden Vorlagen einander gegenüber stellen und das Fazit ziehen.
Zur Initiative:
Die Initiative will allen Ausländerinnen und Ausländern das Aufenthaltsrecht entziehen, wenn sie wegen bestimmter strafrechtlicher Delikte verurteilt wurden. Neben diesen bestimmten Delikten gilt dies auch, wenn missbräuchlich Sozialleistungen bezogen wurden. Gemäss Initiative wird das Aufenthaltsrecht unabhängig von der Schwere der Tat entzogen. Wer also wegen einem der festgelegten Delikte verurteilt wird, verliert das Aufenthaltsrecht automatisch.
Die Ausländerbehörden haben beispielsweise auch bei einem einmaligen Einbruchdiebstahl eines ausländischen Jugendlichen mit sehr geringfügigem Schaden keinen Spielraum mehr, sie müssen das Aufenthaltsrecht entziehen, die betroffene Person wird aus der Schweiz weggewiesen. Damit die Person nicht wieder in die Schweiz einreisen kann, wird zusätzlich ein Einreiseverbot ausgesprochen.
Zum Gegenentwurf:
Auch der Gegenentwurf will, dass kriminellen Ausländerinnen und Ausländern das Aufenthaltsrecht entzogen wird und diese weggewiesen werden. Sie fragen sich nun zu Recht, weshalb da das Parlament diesen Gegenentwurf ausgearbeitet hat? Wozu braucht es diesen Gegenentwurf? Stellen wir also die beiden Vorlagen, Initiative und Gegenentwurf, einander gegenüber. Drei Unterschiede sind wesentlich:
Erstens, die Kriterien für den Entzug des Aufenthaltsrechts:
Beim Gegenentwurf ist die Schwere des Delikts für den Entzug des Aufenthaltsrechts massgebend, nicht wie bei der Initiative ein Deliktskatalog, welcher eine begrenzte Auflistung von Straftaten beinhaltet. Die Liste der Initiative umfasst beispielsweise vorsätzliche Tötungsdelikte, Vergewaltigung und andere schwere Sexualdelikte, Gewaltdelikte wie Raub, Menschen- und Drogenhandel und auch Einbruch. Für das Parlament stellte der Vorschlag der Initiative keine praxistaugliche Lösung dar. Es wurde kritisiert, dass der Deliktskatalog immer lückenhaft sein werde. Zusätzlich zu erwähnen ist, dass gemäss Initiative ein kleiner Einbruchdiebstahl zur Ausschaffung führen würde, hingegen ein schwerer Betrugsfall mit entsprechend schweren Folgen für die Betroffenen nicht mit einer automatischen Wegweisung geahndet würde.
Der Gegenentwurf des Parlaments betrachtet demgegenüber die Schwere der einzelnen Tat als massgebendes Kriterium. Der Gegenentwurf sieht vor, dass das Aufenthaltsrecht entzogen wird, wenn die betroffene Person wegen einer Straftat verurteilt wurde, für welche das Gesetz eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr androht. Mindeststrafen von einem Jahr oder länger gibt es bei über 30 Delikten. Dazu gehören die Tatbestände, die auch die Initiative erwähnt: Mord, vorsätzliche Tötung, Vergewaltigung oder andere schwere Sexualdelikte, Raub, Menschenhandel und schwere Verstösse gegen das Betäubungsmittelgesetz. Darüber hinaus besteht eine Mindeststrafe von einem Jahr bei Tatbeständen wie Geiselnahme, Brandstiftung und Erpressung. Geplant ist zudem, dass schwere Körperverletzung ebenfalls mit einer Mindeststrafe bedroht wird. Wenn ein Straftäter beispielsweise verurteilt wird, weil er jemanden so zusammengeschlagen hat, dass das Opfer bleibende Schäden davon trägt, soll der ausländische Straftäter sein Aufenthaltsrecht ebenfalls verlieren. Damit ist der Gegenentwurf umfassender als die Initiative.
Der Gegenentwurf geht indessen noch weiter: Die verurteilte Person soll auch ausgewiesen werden, wenn sie wegen einer anderen Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt wurde, oder wenn es sich bei der ausländischen Person um einen Wiederholungstäter handelt, der innerhalb von zehn Jahren zu mehreren Freiheitsstrafen oder Geldstrafen von insgesamt mindestens 720 Tagen oder Tagessätzen verurteilt wurde. Der Gegenentwurf ist folglich nicht nur umfassender, sondern auch differenzierter als die Initiative. Es werden alle schweren Straftaten systematisch erfasst und geringfügige Fälle ausgeschlossen.
Zweitens, das Verhältnis zur Verfassung und zum Völkerrecht:
Die Initiative enthält Bestimmungen, welche dem Völkerrecht und den Grundprinzipien der Verfassung - wie dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit von behördlichen Massnahmen - widersprechen. Bei einer Annahme der Initiative würde dies in der Praxis zu Schwierigkeiten führen. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sieht beispielsweise vor, dass bei der Wegweisung eines straffälligen ausländischen Jugendlichen nur dann in das Recht auf Achtung des Familienlebens eingegriffen werden darf, wenn dies zur Aufrechterhaltung der Ordnung sowie zur Verhütung von weiteren Straftaten notwendig ist. Dies verlangt in jedem einzelnen Fall eine individuelle Prüfung. Die Initiative zielt dagegen auf die automatische Wegweisung, das heisst ohne Prüfung des Einzelfalls. Wie die Initiative bei Annahme unter diesen Gegebenheiten völkerrechtskonform und in Übereinstimmung mit den Grundrechten und Grundprinzipien der Verfassung umgesetzt werden würde, ist unklar.
Drittens, die Integration der ausländischen Bevölkerung:
Zusätzlich enthält der Gegenentwurf eine Bestimmung über die Integration der ausländischen Bevölkerung. Für die Integration sind Arbeit, Bildung und Sprachkenntnisse zentral. Alle an der Integration Beteiligten müssen die Verfassung sowie die öffentliche Sicherheit und Ordnung respektieren. Wirtschaftliche Selbständigkeit und der Wille, sich in die Gesellschaft zu integrieren werden vorausgesetzt. Willkommen ist, wer sich längerfristig integrieren kann. Hier wurden die Lehren aus der früheren Gastarbeiterpolitik gezogen. Eine gute Integration beugt Kriminalität vor.
Später notwendig werdende repressive Massnahmen kosten die Gesellschaft ungleich mehr. Integrationsmassnahmen sind eine Investition in die Zukunft.
Zusammenfassung:
Ich fasse zum Schluss noch einmal zusammen: Die Initiative verlangt, dass Ausländerinnen und Ausländer bei einer Verurteilung wegen bestimmten Straftatbeständen automatisch das Aufenthaltsrecht entzogen wird. Automatisch bedeutet, dass der Einzelfall nicht mehr geprüft wird. Dies gilt auch bei jedem missbräuchlichen Bezug von Leistungen der Sozialhilfe und der Sozialversicherungen. Der Gegenentwurf erfasst dagegen alle schweren Straftaten. Massgebend sind nicht einzeln aufgelistete Delikte, sondern ganz generell das Strafmass. Damit ist der Gegenentwurf umfassender, da er lückenlos alle schweren Straftaten erfasst und differenzierter, da der Einzelfall weiterhin geprüft wird. Zudem vermeidet der Gegenentwurf Konflikte mit der Verfassung und dem Völkerrecht. Darüber hinaus enthält der Gegenentwurf eine Bestimmung über die Integration. Integration beugt Kriminalität vor und ist eine Investition in die Zukunft. Aus diesen Gründen empfehlen Bundesrat und Parlament, die Initiative abzulehnen und den Gegenentwurf anzunehmen.
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Letzte Änderung 20.01.2023