"Chiasso ist nicht Lampedusa" die Justizministerin kontert Kritik

Article, 26 novembre 2023: NZZ am Sonntag; Georg Humbel, Simon Marti

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Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider sagt, sie verstehe die Sorgen der Bevölkerung über die Migration. Sie stelle aber auch fest, dass die Solidarität überwiege. Die SP-Magistratin rechnet auch im kommenden Jahr mit hohen Flüchtlingszahlen.

Frau Bundesrätin, die SVP hat bei den Wahlen massiv zugelegt. Hat sie auch wegen Ihrer Asylpolitik gewonnen?
Nein, absolut nicht. Die SVP hat schon früher auf die Migration als Wahlkampfthema gesetzt. Es ist ein Narrativ, das funktioniert, nicht nur in der Schweiz. Ich denke aber nicht, dass ich der SVP dabei geholfen habe, schliesslich hat auch die SP gewonnen, mit ganz anderen Themen.

Sie haben es angesprochen: Europaweit legen migrationskritische Parteien zu, gewinnen Wahlen. Zeigt das nicht, dass die Bevölkerung die bisherige liberale Asylpolitik nicht länger mitträgt?
Diese Parteien legen nicht wegen der Migration zu, sondern weil grundsätzlich ein Klima der Unsicherheit herrscht. Niemand konnte sich diesen Krieg in der Ukraine vorstellen. Niemand konnte vorhersehen, dass sich die Lage im Nahen Osten so entwickelt. Das ist ein Umfeld, von dem die Rechte profitiert.

Aber Sie spüren die Sorgen in Teilen dere Bevölkerung schon?
Es gibt teilweise Unzufriedenheit und Unsicherheit - und ja, das schlägt sich im Wahlresultat der SVP nieder. Aber wenn ich mit Personen in den Gemeinden und Kantonen spreche, merke ich, dass die Bevölkerung noch immer sehr solidarisch ist und bereit, sich zu engagieren.

Sie waren kürzlich in Chiasso. Da ist die Stimmung doch etwas anders.
Chiasso ist nicht Lampedusa, wie es in den Medien hiess. Es gibt einen Teil der Bevölkerung, der besorgt ist angesichts der Menschen, die über die Grenze kommen. Aber es gibt auch einen Teil der Bevölkerung, der
sagt, dass es gut läuft mit der Aufnahme und Integration.

Was sagen Sie denen, die besorgt sind?
Die Antworten stellen nicht immer alle sofort zufrieden. Sehen Sie, ich habe auch das Bundesasylzentrum in Boudry im Kanton Neuenburg besucht. Dort gibt es auch Herausforderungen. Ich verstehe, dass die Toleranz sinkt, wenn einem zum dritten Mal etwas aus dem Auto gestohlen wird. Ich verstehe, dass die Bevölkerung sich fragt, warum ein Zentrum in ihrem Dorf steht und nicht in der Gemeinde daneben. Nun haben wir gemeinsam mit dem Kanton und der Gemeinde Massnahmen ergriffen. Es gibt etwa mehr Sicherheitspersonal im öV und rund um die Asylzentren und in der Nacht eine bessere Strassenbeleuchtung.

Mit wie vielen Asylgesuchen rechnen Sie im nächsten Jahr?
Für dieses Jahr rechnen wir immer noch mit 28 000 plus, minus 2000 Gesuchen. Ich gehe von einer ähnlichen Zahl für 2024 aus. Immer unter der Voraussetzung, dass sich die Lage zum Beispiel im Nahen Osten nicht komplett ändert.

Das System steht unter Druck. War es vor diesem Hintergrund das richtige Signal, Afghaninnen erleichtert Asyl zu gewähren?
Ich mache keine Signalpolitik. Ich mache eine Politik des Rechts. Die Situation der Frauen in Afghanistan ist extrem schwierig: Verfolgung, kein Zugang zu Bildung, Zwangsehen, die Scharia. Die Europäische Asylagentur hat festgehalten, dass Afghaninnen in den meisten Fällen Anrecht haben auf Asyl. Die Schweiz ist dieser Einschätzung gefolgt, wie praktisch alle westeuropäischen Staaten.

Diese Woche wurde bekannt, dass Sie gerne die Kontingente für Fachkräfte aus Drittstaaten senken würden. Also weniger IT-Spezialisten aus Grossbritannien zum Beispiel. Ist das auch kein Signal?
Warten Sie doch den Entscheid des Bundesrates ab. Aber die Botschaft ist doch: Erleichterungen für geflüchtete Afghaninnen, dafür aber weniger Kontingente für Fachkräfte. Nein, das ist nicht die Botschaft. Es gibt keine Absicht, weniger Fachkräfte zuzulassen, als in den letzten Jahren gekommen sind.

Also schlagen die Arbeitgeber falschen Alarm?
Die Kontingente werden nicht ausgeschöpft. Die Wirtschaft könnte mehr Hochqualifizierte reinholen.

Aber Sie wollen gemäss Medienberichten die Kontingente kürzen, und der Arbeitgeberverband beklagt sich bereits heftig.
Noch einmal: Dieses Dossier ist demnächst im Bundesrat. Und ich muss Ihnen wirklich sagen: Einzelne dieser Kontingente werden heute nur zu etwa 30 Prozent ausgeschöpft.

Grundsätzlich gefragt: Können wir uns eine humane Asylpolitik noch leisten?
Ja. Sicher. Das neue Asylgesetz, das die Bevölkerung 2016 nach der Flüchtlingskrise angenommen hat, stellt schnelle und faire Verfahren sicher. Wir haben die Mittel für eine humane Asylpolitik.

Aber die Kantone sagen, sie seien am Anschlag und hätten zu wenig Betten.
Diese Kritik kommt aus meiner Sicht vor allem, weil die Vorausplanung so schwierig ist. Wir müssen hier wirklich aus dem Notfall-Modus herausfinden. Es ist essenziell, dass wir in Zusammenarbeit mit den Kantonen und Städten wieder besser planen können.

Jetzt leben wieder viele Asylbewerber in unterirdischen Zivilschutzanlagen. Ist das Ihre Vorstellung einer humanen Politik?
Für die Betroffenen ist das nicht besonders angenehm. Aber was man auch sagen muss: Wir sind zurzeit nicht im Normalbetrieb. Üblicherweise haben wir ungefähr 4000 Pendenzen. Mittlerweile haben wir über
15 000 offene Asylgesuche. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir jeden Monat zusätzlich etwa 2000 Gesuche aus der Ukraine für den Status S haben. Wenn wir keinen Krieg in der Ukraine hätten, dann würden die Kapazitäten ausreichen, und wir brauchten keine Zivilschutzanlagen.

Italien wählt einen ganz neuen Weg und will Asylverfahren nach Albanien auslagern. Schliessen Sie so etwas für die Schweiz aus?
Mit unseren jetzigen Rechtsgrundlagen, ja. Auch Dänemark hatte solche Pläne, und sie sind gescheitert. Genau gleich in Grossbritannien. Wir können keine Symbolpolitik machen, die nicht mit unseren Rechtsgrundlagen vereinbar ist. Ich bin auch Justizministerin. Das Bundesamt für Justiz würde sofort einschreiten. Wir haben eine Ethik, wir haben einen Rechtsstaat.

Kein anderes politisches Thema ist derart umstritten wie das Asyldossier, das Sie vor einem Jahr übernehmen mussten. Wie erleben Sie den Druck?
Es geht mir gut. Es ist ein sehr herausforderndes Thema. Aber ich spüre auch eine grosse Leidenschaft. Es geht um Menschen. Es geht um das Zusammenleben und um unsere Gesellschaft als Ganzes.

So konstruktiv, wie Sie das jetzt beschreiben, läuft die Debatte nicht.
Die Debatte ist stark polarisiert. Das stimmt. Aber ich nehme das nicht persönlich. Ich habe wirklich Lust, eine gute Politik zu machen, der die Menschen vertrauen. Ich habe genügend Lebenserfahrung, um damit umgehen zu können.

Sie stammen selber aus dem Jura, einer Grenzregion. Was haben Sie für Erfahrungen gemacht mit den offenen Grenzen? Sind Sie ein Fan der Personenfreizügigkeit?
Ich bin Realistin. Ich sehe, wer in den jurassischen Spitälern und in der Industrie arbeitet. Wenn wir Wachstum und Wohlstand wollen, dann brauchen wir Arbeitskräfte. Wir haben heute eine tiefe Arbeitslosigkeit. Für den Kanton Jura kann ich sagen, dass die vielen Grenzgängerinnen und Grenzgänger kein Problem sind. Aber wir haben auch Instrumente wie einen Mindestlohn, damit das Zusammenleben mit den vielen «frontaliers» funktioniert. Es gibt im Jura auch sehr viele binationale Paare, Familien leben auf beiden Seiten der Grenze. Meine Erfahrungen sind in diesem Sinne gut.

Heute haben viele Angst vor der 10-Millionen-Schweiz. Dabei geht das Wachstum ja weiter, und irgendwann leben wir vielleicht in einer Schweiz mit 12 Millionen Einwohnern. Können Sie sich das vorstellen?
Für sich genommen üben solche Zahlen - 10 Millionen, 12 Millionen - auf mich keine Faszination aus. Entscheidend ist, was das konkret heisst für das Leben der Menschen.

Aber wir fragen Sie jetzt: Können Sie sich vorstellen, in einer 12-Millionen-Schweiz zu leben?
Wir müssen darüber reden, wie wir den Wohlstand verteilen und wie wir leben. Es braucht bezahlbare Wohnungen. Es braucht einen gut ausgebauten öffentlichen Verkehr. Es braucht eine gute Raumplanung. Aber wenn Sie mich so fragen: Ich habe keine Angst vor einer 12-Millionen-Schweiz. Aber ich sehe darin auch kein erstrebenswertes Ziel.

Das Europadossier wird die grosse Herausforderung der kommenden Legislatur. Da haben Sie als SP-Bundesrätin eine besondere Verantwortung, weil die Kritik am gescheiterten Rahmenabkommen auch aus der SP kam.
Sie haben recht. Das wird ein extrem wichtiges Thema für die kommende Legislatur.
Wir können uns im Europadossier kein zweites Scheitern erlauben.,

Die Gewerkschaften gehen ja schon wieder in die Opposition. Droht der nächste Absturz?
Keine Seite hat ein Vetorecht. Es ist keine Debatte im Sinn von: die Gewerkschaften gegen alle anderen. Für die Gewerkschaften ist zentral, dass die Löhne geschützt sind. Für die Wirtschaft ist die Personenfreizügigkeit und der Zugang zum europäischen Binnenmarkt entscheidend. Es ist wichtig, dass alle erkennen, was uns ein Abkommen mit der EU bringt. Und welchen Preis wir bezahlen müssen.

Aber es wird nicht ohne Kompromisse der Gewerkschaften gehen?
Ich weiss nicht, ob das Kompromisse sind. Wir müssen das machen wie bei anderen politischen Projekten auch. Schrittweise vorgehen und immer wieder analysieren, ob das Ergebnis stimmt. Wie erkläre ich meinem Cousin, dass ein geregeltes Verhältnis mit der EU derart wichtig ist? Alle müssen das Thema verstehen. Nicht nur die Politiker, die Forscher oder Experten. Wir müssen die ganze Gesellschaft mitnehmen.

Niemand im Bundesrat hat einen derart engen Draht zum Gewerkschaftschef Pierre-Yves
Maillard wie Sie. Im Bundeshaus erzählt man sich die schöne Geschichte, dass sie von Maillard eine schwarze Katze übernommen haben.

Nein, diese Katze ist grau!

Vielleicht wäre es deshalb an Ihnen, ihn für die Einigung mit der EU an Bord zu holen?
Wir respektieren uns gegenseitig, und wir sprechen über das Thema. Pierre-Yves Maillard verfolgt nicht einfach seine persönliche Agenda. Es geht um ein reales Problem. Es geht ihm um den Schutz der Löhne. Er ist sehr gut in den Ständerat gewählt worden, und er ist entsprechend ein starker Verhandlungspartner. Ich bin zuversichtlich, dass er offen ist für Verhandlungen.

Der Krieg im Nahen Osten führt zu Spannungen in der Schweiz. Was sagen Sie Jüdinnen und Juden, die sich in der Schweiz nicht mehr sicher fühlen?
Ich sage ihnen, dass wir als Gesellschaft die Verantwortung haben, dass sie sich hier sicher fühlen. Wir sind für die Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger verantwortlich.

Auf dem Bundesplatz haben Tausende propalästinensische Demonstranten protestiert. Sie haben antiisraelische oder sogar antisemitische Slogans verbreitet. Haben wir ein Problem mit importiertem Antisemitismus?
Ich glaube nicht, dass es hilfreich ist, die Diskussion auf importierten Antisemitismus zu beschränken. Es gibt leider auch Antisemitismus unter Schweizerinnen und Schweizern oder unter Menschen, die schon sehr
lange in der Schweiz leben. Was ich wichtig finde: Es gibt in diesem Land keinen Platz für Antisemitismus. Es gibt in diesem Land keinen Platz für Homophobie und Islamophobie. Wir müssen das sehr klar sagen.

Wir müssen da nachhaken. Der Basler Rabbi hat gegenüber dem Internetportal Bajour gesagt, er getraue sich nicht mehr mit der Kippa und als Jude erkennbar durch das migrantisch geprägte Kleinbasel zu laufen. Das zeigt doch, dass es da ein Problem gibt.
Ich finde diese Unterscheidung zwischen importiertem und oder nicht importiertem Antisemitismus nicht zielführend. Wichtig ist, entschieden gegen jede Form von Antisemitismus zu kämpfen. Ich will, dass sich Jüdinnen und Juden mit der Kippa sicher fühlen können und sich überall bewegen können.

Die Finanzkommission hat es diese Woche abgelehnt, mehr Geld für den Schutz von Synagogen oder jüdischen Schulen zu bewilligen. Was sagen Sie dazu?
Es steht mir nicht zu, Entscheide des Parlaments zu kommentieren. Die 2,5 Millionen Franken, die für den Schutz religiöser Minderheiten derzeit zur Verfügung stehen, sind wichtig, aber sie decken die Nachfrage nicht. Bereits im Juni waren beim Bundesamt für Polizei 42 Gesuche für 4,8 Millionen Franken eingegangen. Mit dem brutalen Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober hat sich der Bedarf an Schutzmassnahmen für jüdische und islamische Institutionen nochmals akzentuiert. Ich habe den Auftrag erteilt, zu prüfen, ob wir auch intern eine Möglichkeit haben, die Mittel zu erhöhen. Aber Sie kennen die Situation der Bundesfinanzen.

Europaweit hat die Sozialdemokratie Mühe. In der Schweiz legt die SP dagegen zu. Wie erklären Sie sich das?
Wir haben das Gespräch bei der SVP und bei der Migration angefangen. Ich denke, dass Parteien zugelegt haben, die sichtbar sind und eine klare Botschaft haben. Die SP hat sich bei den Themen Kaufkraft, Krankenkassenprämien oder Armut sehr klar positioniert. Man hat das zuerst in der Romandie gesehen, aber jetzt beim zweiten Wahlgang für den Ständerat auch in der Deutschschweiz: Personen mit einem klar linken Profil haben sich durchgesetzt.

Sind Sie froh, dass die SP im rot-grünen Lager wieder der Platzhirsch ist und die Grünen auf Distanz halten konnte?
Nein. Ich gehöre nicht zu denen, die sich über die Grünen beklagen oder sich beschweren, dass die Grünen uns den Platz streitig machen. Die progressiven Kräfte müssen gemeinsam wachsen.

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Dernière modification 26.11.2023

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