Bundesrätin Simonetta Sommaruga zum starken Bevölkerungswachstum "Das macht stutzig"

Sonntagsblick, Christine Maier und Nico Menzato
Die Justizministerin über die Einwanderungs-Initiative – und was sie davon hält, dass Gemeinden Sozialhilfe an EU-Einwanderer ohne Job zahlen.

Frau Bundesrätin, war 2013 für Sie persönlich ein gutes Jahr?
Ja. Ich habe beeindruckende Momente erlebt. Ich will so oft wie möglich am Ort des Geschehens sein, will wissen, wovon ich spreche. Deshalb bin ich letztes Jahr zum Beispiel an die griechisch-türkische Grenze gereist, um zu sehen, wo und wie Flüchtlinge nach Europa kommen. Eine andere bleibende Begegnung hatte ich mit einem verwahrten Straftäter, der seit 27 Jahren in Haft sitzt.

Wir haben Sie nach Ihrem persönlichen Befinden gefragt, und Sie sprechen von Ihren Erlebnissen als Bundesrätin. Warum?
Ich übe das Bundesratsamt als Mensch aus. Was ich als Bundesrätin tue, hat also sehr viel mit meiner Person zu tun. Die Begegnungen, die ich beruflich habe, berühren mich – und sie bescheren mir immer wieder auch Glücksmomente.

Welches waren denn die Tiefpunkte 2013?
Die Flüchtlingsdramen vor Lampedusa. Oder der Krieg in Syrien.

Sie reden von Kriegsdramen – und stoppten die erleichterte Einreise für syrische Flüchtlinge bereits nach wenigen Wochen.
Die Schweiz hat damit zahlreichen Familien von Syrerinnen und Syrern, die bei uns leben, rasch und unbürokratisch geholfen, als einziger Staat Europas. Und es war von Anfang an klar, dass die Massnahme vorübergehend war, denn in der Schweiz leben nur rund 2000 Syrer, und nur deren Familienangehörige hatten Anspruch auf erleichterte Einreise.

Die Flüchtlingshilfe kritisiert Sie scharf: Viele Syrer hätten sich in der Hoffnung auf ein Visum auf den Weg in die Schweiz gemacht, strandeten und stünden nun vor dem Nichts. Haben Sie falsche Hoffnungen geweckt?
Nein. Wir haben ganz reale, konkrete Hilfe geleistet: Es sind bisher rund 1000 Personen eingereist, und viele Gesuche werden erst noch bearbeitet.

Eines der dominierenden Themen 2014 wird die Migration sein. Können Sie den Unmut über die hohe Zuwanderung verstehen?
Ich kann das sehr gut nachvollziehen. Es macht stutzig, wenn die Bevölkerung so schnell wächst. Das war schon immer so, auch Ende der 60er-Jahre – damals wurde die Schwarzenbach-Initiative eingereicht.

Der Bundesrat rechnete 2002 mit rund 10 000 Einwanderern pro Jahr. Dieses Jahr sind es über 80000. Wie lange kann das so weitergehen?
Es war in den letzten Jahrzehnten immer gleich: Wenn es uns wirtschaftlich gut ging, war die Einwanderung hoch. Wenn es schlecht ging, etwa in den 90er-Jahren, hatten wir kaum Wachstum, hohe Arbeitslosigkeit und deshalb auch fast keine Zuwanderung.

Nochmals: Wie lange kann die Schweiz eine solch massive Einwanderung noch verkraften?
Es wäre unseriös, darauf eine Antwort zu geben, denn das hiesse, die Konjunktur auf Jahrzehnte vorauszusagen. Aber es wird nicht immer so weitergehen. Es kann sich schnell ändern. Schauen Sie Irland an: vor einigen Jahren eine blühende Wirtschaftsnation und ein Einwanderungsland. Dann kam die Finanzkrise. Heute hat Irland eine Arbeitslosigkeit von deutlich über zehn Prozent und ist ein Auswanderungsland.

Auch wenn es uns wirtschaftlich dereinst nicht mehr so gut geht. Die Schweiz wird wohl ein Magnet bleiben – auch wegen der hohen Löhne.
Personen, die einen Job haben, können im Rahmen der Personenfreizügigkeit in die Schweiz einreisen. Wenn unser Arbeitsmarkt künftig weniger Arbeitskräfte benötigt, werden auch weniger kommen – egal, wie hoch die Löhne sind. Unsere rekordtiefe Arbeitslosigkeit beweist, dass fast nur EU-Bürger in die Schweiz kommen, die eine Arbeit haben.

Die Angst um den Arbeitsplatz bleibt.
Trotz starker Zuwanderung haben wir eine sehr tiefe Arbeitslosigkeit. Aber wir müssen unsere guten Arbeitsbedingungen schützen. Deshalb braucht es flankierende Massnahmen und noch mehr Kontrollen. In der Schweiz müssen Schweizer Löhne bezahlt werden.

Auch die Angst, die Landschaft werde verschandelt, bleibt.
Zersiedelung gab es bereits, als die Schweiz weniger Einwohner hatte. Heute schützen die Kantone unsere Landschaft besser als früher – dank strengerer Raumplanung. Aber es braucht weitere Anstrengungen. Das liegt allein in unserer Hand.

Am 9. Februar stimmen die Bürgerinnen und Bürger über die Masseneinwanderungs-Initiative der SVP ab. Wird bei einem Ja die Einwanderung begrenzt?
Ich bezweifle es sehr. Sehen Sie, in den 60ern hatten wir Kontingente – und mehr Zuwanderung als heute. Diese Initiative bietet keine Lösungen für die negativen Begleiterscheinungen der Zuwanderung, keine Antworten, wie wir bezahlbaren Wohnraum erhalten, die Landschaft besser schützen und die guten Arbeitsbedingungen verteidigen können.

Wichtige Argumente des Bundesrats gegen die SVP-Initiative entpuppen sich aber als falsch!
Ach ja, welche?

Bezüglich Wohnraum: Der Bundesrat sagte, nicht nur die Zuwanderung führe zu immer knapperem Wohnraum. Sondern weil wir Schweizer immer mehr Raum beanspruchten. Neue Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen aber: Das stimmt nicht. Von 2000 bis 2012 ist der Wohnraum pro Person nur von 44 auf 45 m2 gestiegen.
Tatsache ist: 1980 haben wir noch 34 m2 beansprucht. Wenn Sie in Ihrem Umfeld schauen, ist es doch so: Wir beanspruchen immer mehr Wohnraum. Früher teilten sich drei Geschwister ein Kinderzimmer, heute hat normalerweise jedes Kind ein eigenes.

Seit Einführung der Personenfreizügigkeit stieg der Wohnraum der Schweizer aber nicht mehr.
Ein Vergleich mit früher ist schwierig, wenn die Art der Erhebung ändert. Das Bundesamt addiert zum Beispiel die Wohnflächen von Personen, die in mehreren Wohnungen leben, nicht mehr – also etwa eine Ferienwohnung oder das Studio zum Wochenaufenthalt. Das führt zu tieferen Durchschnittswerten. Andere Berechnungen gehen heute von 50 m2 Wohnraum pro Person aus.

Im Weiteren hat der Bundesrat verneint, dass eine Zuwanderung ins Sozialsystem stattfinde. Die Sozialhilfequote von EU-Ausländern ist aber innert eines Jahres von 2,9 auf 3,1 Prozent gestiegen.
Genau, um 0,2 Prozentpunkte. Bei den Schweizern liegt die Quote bei 2,2 Prozent. Also nur unwesentlich tiefer. Dies beweist, dass EU-Bürger in die Schweiz kommen, wenn sie einen Job haben. Und nicht ins Sozialsystem einwandern.

Die Sozialhilfequote der EU-Ausländer ist ein Drittel höher als jene der Schweizer. Und sie steigt!
Wir bewegen uns auf tiefem Niveau – Europa beneidet uns darum. Klar ist: Stellensuchende haben kein Anrecht auf Sozialhilfe.

Dennoch gibt es Gemeinden, die freiwillig Sozialhilfe für Zuwanderer bezahlen, die hier einen Job suchen. Obwohl sie nicht müssten. Finden Sie das in Ordnung?
Nein. Das ist nicht wünschbar.

Appellieren Sie an Gemeinden, darauf zu verzichten?
Es gibt hier eine Autonomie der Gemeinden. Es ist aber wichtig, dass die Gemeinden sehen, wie die juristische Ausgangslage ist: Das Freizügigkeitsabkommen besagt, dass Einwanderer, die in der Schweiz noch nie gearbeitet haben und einen Job suchen, kein Anrecht auf Arbeitslosengelder und Sozialhilfe haben.

Wäre bei einem Ja zur SVP-Initiative die Glaubwürdigkeit der Regierung in Frage gestellt?
Reden wir über die Sache: Wenn das Volk am 9. Februar mit Ja stimmt, ist das nicht ein Symbol oder Fingerzeig. Es wäre die Aufforderung, das Einwanderungssystem grundsätzlich zu ändern. Dabei geht es um einen Kernbereich des Verhältnisses der Schweiz und der EU.

Sie könnten einem Streit mit der EU elegant aus dem Weg gehen und einfach die Kontingente sehr hoch ansetzen.
Das wäre ein gefährlicher Schluss: Kontingente, wie hoch auch immer, stehen in einem grundsätzlichen Widerspruch zur Personenfreizügigkeit. Richtig ist aber: Die Initiative nennt keine konkrete Höchstzahl. Es wäre bei einem Ja also tatsächlich möglich, sehr hohe Kontingente festzulegen.

Die Idee der Initianten wäre nicht umgesetzt. Auch bei der Ausschaffungs- oder Abzocker-Initiative beklagen dies die Initianten. Wird das Volk noch ernst genommen?
Sehr ernst sogar. Aber die Stimmbürger haben nicht nur Ja zur Ausschaffungs- oder zur Abzocker-Initiative gesagt. Sondern auch zu allen anderen Artikeln der Bundesverfassung. Ein neuerer Entscheid verdrängt nicht automatisch einen älteren. Ein neuer Verfassungsartikel muss sich in die bestehende Bundesverfassung einpassen.

Wie kann das Problem, dass Initiativen gegen Bundesverfassung oder Völkerrecht verstossen, gelöst werden?
Initiativen müssen sorgfältig formuliert sein – und dürfen nicht als Politmarketing missbraucht werden.

Der Bundesrat wollte Initiativen vor der Unterschriftensammlung inhaltlich prüfen. Mit diesem Vorschlag sind Sie aufgelaufen. Warum?
Das ist ziemlich speziell. Immerhin war es das Parlament, das den Bundesrat beauftragt hatte, diesen Vorschlag auszuarbeiten. Nun fehlt die Unterstützung von Parteien und Verbänden. Jetzt beginnen wir von vorne. Das ist Politik.

Frau Bundesrätin, wir wünschen Ihnen ein glückliches Jahr 2014.
Danke, das wünsche ich Ihnen auch.

Letzte Änderung 29.12.2013

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