"SVP-Initiative löst kein einziges Problem"

SonntagsZeitung, Denis von Burg, Pascal Tischhauser

Die Masseneinwanderungs-Initiative wirft die Frage auf: Wie viel Zuwanderung erträgt die Schweiz? Was meinen Sie?
Eine fixe Zahl zu nennen, wäre nicht seriös. Die Zuwanderung war in konjunkturell guten Zeiten immer hoch, und sie war tief, wenn es der Schweiz schlecht ging. Derzeit geht es uns sehr gut, darum haben wir eine hohe Zuwanderung.

Der Bundesrat versprach, die Personenfreizügigkeit bringe höchstens eine Netto-Zuwanderung von 10 000 Personen, jetzt sind es bis zu 80 000. Hat die Regierung gelogen?
Natürlich nicht. Der Bundesrat hat nicht gelogen. Ich sage Ihnen, worauf sich der Bundesrat damals abstützte. In den Neunzigern hatten wir eben eine Konjunkturbaisse und eine hohe Arbeitslosigkeit. Aber die Voraussetzungen haben sich seither verändert: Die EU ist um 13 Staaten gewachsen. Das hat Auswirkungen. Ursache für die hohe Zuwanderung ist nicht die Personenfreizügigkeit, sondern die gute Konjunktur. Nehmen Sie Irland. 2007 gab es eine blühende Wirtschaft mit hoher Zuwanderung und vier Prozent Arbeitslosigkeit. Heute ist Irland wirtschaftlich in einer schwierigen Lage und ein Auswanderungsland.

Wenn wir nicht warten wollen, bis es uns so schlecht geht wie Irland, brauchen wir eine Zuwanderungs-Beschränkung.
Die Masseneinwanderungs-Initiative löst kein einziges Problem. Sie bringt unter Umständen eine höhere Einwanderung – trotz der Kontingente. Vor allem aber bereitet die Initiative der Wirtschaft grösste Probleme. Darum müssen wir die negativen Folgen des Bevölkerungswachstums unabhängig von der Initiative lösen.

Ist die Initiative zu bodigen? Es gibt massive Ängste.
Ich bin viel unterwegs, spreche mit den Menschen und spüre das Unbehagen in den Regionen mit besonders starker Zuwanderung. Hier ist die Wirtschaft in der Pflicht. Sie muss aufzeigen, dass sie wirklich nur jene Leute holt, die sie hier nicht bekommt. Und es muss klar sein, dass in der Schweiz tatsächlich auch Schweizer Löhne bezahlt werden.

Gerade hier gibt es Zweifel.
Deshalb müssen die Kantone die flankierenden Massnahmen konsequent umsetzen und noch strenger kontrollieren. Die Bevölkerung hat ein Anrecht darauf, dass Wirtschaft und Kantone noch entschlossener gegen Missbrauch und Lohndumping vorgehen.

Im Tessin sind Italienerinnen bereit, für 2000 Franken als Sekretärin zu arbeiten. Reichen die heutigen Massnahmen gegen solches Lohndumping?
Der Bundesrat ist der Meinung, dass, wenn sich neue Probleme ergeben, es neue Massnahmen braucht. Deshalb hat der Bundesrat reagiert: Unter seiner Führung diskutieren Arbeitnehmer und -geber weitere Schritte.

Wo bleiben die Resultate?
Ich erwarte von den Sozialpartnern, dass sie sich zusammenraufen und sich auf nötige Massnahmen verständigen, denn es steht viel auf dem Spiel. Deshalb bin ich überzeugt, dass sie hier Verantwortung übernehmen.

Was braucht es?
Die Sozialpartner müssen die richtige Antworten finden. Sie geniessen in der Bevölkerung eine grosse Glaubwürdigkeit, weil ihre Lösungen ausgewogen sind. Es müssen Vorschläge kommen.

Es hiess, es gebe keine Einwanderung in die Sozialwerke. Trotzdem kassieren EU-Ausländer Arbeitslosen- oder Sozialhilfe.
Achtung, jetzt kommen ein paar Dinge durcheinander: Die Quote der Sozialhilfebezüger unter den EU-Bürgern liegt bei 2,9 Prozent, sie ist also fast gleich wie jene der Schweizerinnen und Schweizer, die bei 2,1 Prozent liegt. Zweitens: Wer in der Schweiz keine Stelle findet, hat keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Was es gibt, sind einzelne Gemeinden oder Kantone, die freiwillig Sozialhilfe für stellenlose Zuwanderer bezahlen.

Was für Sozialkosten bringt die Personenfreizügigkeit?
In die AHV bezahlen die Einwanderer aus der EU mehr ein, als sie beziehen. Es handelt sich hier um Milliardenbeträge. In der Arbeitslosenkasse ist es umgekehrt. Aber hier sind es Millionen. Wie sich die Personenfreizügigkeit langfristig auf die Sozialwerke auswirkt, hängt davon ab, wie gut qualifiziert die Einwanderer sind. Je höher die Qualifikation, desto positiver ist die Bilanz.

Dennoch denken die Briten über die Revision der Freizügigkeit nach. Sehen Sie hier keinerlei Möglichkeiten?
Ich habe vergangene Woche meine britische Amtskollegin darauf angesprochen, was Grossbritannien jetzt unternehme. Sie sieht noch Spielraum bei den nationalen Gesetzen. Das eigentliche Problem sei, dass es über die Unionsbürgerschaft eine Einwanderung in die Sozialhilfe gebe.

Es gibt die Einwanderung in die Sozialwerke eben doch.
Aber nicht bei uns. Die Unionsbürgerschaft gilt für uns nicht, und es wird sie auch nicht geben.

Wären die Folgen eines Ja wirklich so schlimm?
Würde die Initiative angenommen, müssten wir jedes Jahr neu aushandeln, wie viele Ausländer ins Land kommen dürfen. Es gäbe also ein Jahreskontingent für alle Ausländer inklusive Asylsuchender. Darüber, wie die Kontingente auf Branchen und Regionen verteilt werden, sagt die Initiative nur: «im gesamtwirtschaftlichen Interesse». Ich frage zurück: Wer definiert das? Die Banken? Die Pharma? Der Nationalrat? Das gäbe dann spannende Debatten. Unternehmen hätten keine Planungssicherheit, sie könnten nicht sicher sein, ob sie die nötigen Arbeitskräfte rekrutieren können.

Die Initianten fordern erst mal, mit der EU zu verhandeln.
Natürlich würde der Bundesrat das Gespräch mit der EU suchen. Klar ist aber, dass Kontingente nicht mit der Personenfreizügigkeit kompatibel sind. Es wäre schwierig für die EU, der Schweiz eine Sonderregelung in einem ihrer Kernbereiche zuzugestehen. Wenn wir uns mit der EU nicht finden könnten, käme es zu einer Kündigung der Personenfreizügigkeit, und damit würden automatisch alle anderen Bilateralen-I-Verträge innerhalb von sechs Monaten dahinfallen. Das ist die rechtliche Ausgangslage, so steht es in den Verträgen.

Der Bundesrat würde also die Freizügigkeit kündigen?
Ausschlaggebend ist: Um die Vorstellung der Initianten umzusetzen, müsste die Schweiz eine Ausnahmeregelung aushandeln können, der sämtliche 28 EU-Staaten zustimmen müssten. Wie realistisch das ist, das sollen die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger beurteilen.

Vielleicht will der Bürger dem Bundesrat bei dieser Abstimmung mit einem Ja einen Denkzettel verpassen.
Ein Denkzettel wäre gefährlich. Bei dieser Abstimmung geht es nicht um das Kleingedruckte. Die Stimmbürgerinnen und -bürger entscheiden, ob wir die Personenfreizügigkeit aufgeben und den bilateralen Weg aufs Spiel setzen oder nicht. Wir entscheiden nicht über eine Feinjustierung, sondern über einen Systemwechsel mit weitreichenden Folgen für unseren Wohlstand.

Mag sein, dass das Volk hier noch Nein sagt, aber es folgen ähnliche Abstimmungen.
Die eigentliche Frage ist dabei immer dieselbe: Wie können wir unsere hohe Lebensqualität und unseren Wohlstand erhalten? Darauf gibt die SVP-Initiative keine Antwort. Die Lösungen haben wir selber in der Hand, indem wir unsere Landschaften schützen, für günstigen Wohnraum sorgen und unsere Verkehrsinfrastrukturen massvoll ausbauen. Am 9. Februar bringt nicht die Masseneinwanderungs-Initiative, sondern die Abstimmung über den Eisenbahnausbau eine weitere Lösung. Schauen wir also zuversichtlich nach vorne, es liegt an uns, wie wir die Schweiz der Zukunft gestalten.

Letzte Änderung 15.12.2013

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