"Das Kontingentsystem wäre Gift für die Wirtschaft"

Walliser Bote, Thomas Rieder
Walliser Bote: "Justizministerin Simonetta Sommaruga befürchtet bei einer Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative schwerwiegende Nachteile für die Schweizer Wirtschaft."

Frau Bundesrätin, was sagen Sie zum Vorwurf der SVP, Sie würden sich zu stark engagieren für ein Nein gegen die Masseneinwanderungs-Initiative?
Wenn sich der Bundesrat in einer Abstimmung engagiert, wird er kritisiert. Wenn er sich nicht engagiert, kritisiert man ihn auch. Das gehört ein bisschen zu unserem Amt. Aber es ist in der Tat so: Wir engagieren uns, wir informieren die Bevölkerung. Es geht um eine sehr wichtige Vorlage. Im Unterschied zur Minarett-Initiative, wo man noch die Faust im Sack machen konnte, um ein Zeichen zu setzen, geht es hier um einen Systemwechsel.

Systemwechsel?
Die Frage lautet: Bleiben wir mit der Personenfreizügigkeit auf dem bewährten Weg der bilateralen Verträge oder kommen wir zurück zu einem Kontingentsystem?

Nochmals zurück zur ersten Frage. Sie lassen sich also durch die Kritik der Initianten nicht von Ihrer Informationsstrategie abhalten?
Nein. Ich stelle fest, dass das Informationsbedürfnis gross ist. Die Veranstaltungen werden sehr gut besucht und die Menschen stellen kritische Fragen. Ich will, dass dort alles auf den Tisch kommt und es keine Tabus gibt.

Dafür ist Ihnen kein Aufwand zu gross?
Nein, denn ich gehe gerne zu den Menschen. Es ist doch gelebte Demokratie, dass Mitglieder des Bundesrates ins Säli gehen und mit den Leuten diskutieren können. In diesen Gesprächen 1:1 liegt eine hohe politische Kultur, die ich pflegen möchte.

Fühlen Sie sich durch die flächendeckende Plakatinitiative „Masslosigkeit schadet“ in Ihrem sozialen Verständnis provoziert?
(lacht) So kann man mich nicht provozieren. Der Slogan ist ja nicht neu und auch keine Erfindung der Initianten. Was wirklich schadet, wäre eine Annahme der Initiative. Man muss sich bewusst sein, dass sie sehr viele Unsicherheiten auslöst.

Woran denken Sie?
Es geht um die Frage, wie es mit dem bilateralen Weg und unseren Unternehmen weitergeht. Eine Annahme der Initiative würde bei den Firmen grosse Planungsunsicherheit verursachen. Sie wüssten nicht im Voraus, wie viele ausländische Arbeitskräfte sie einstellen können. Die Kontingente müssten nämlich Jahr für Jahr neu ausgehandelt werden. Unklar ist auch, wer entscheiden soll - der Bundesrat, das Parlament?

Das wäre wohl Aufgabe der Regierung…
Der Initiativtext lässt das offen, ebenso wie die Höhe der Kontingente. Klar ist: Die Initiative verlangt einen Schweizervorrang. Die Unternehmen müssten also bei der Besetzung jeder einzelnen Stelle zuerst den Nachweis erbringen, dass sie in der Schweiz für diese Stelle niemand gefunden haben. Sie müssten beim Kanton ein Dossier einreichen, das dann zum Bundesamt für Migration geht, ehe eine Bewilligung erteilt werden könnte. Ein enormer Aufwand, gerade auch für die KMU, und mit sehr viel Unsicherheit verbunden, weil bis zum Schluss unklar bliebe, ob die Person angestellt werden kann oder nicht.

Was sind für Sie die drei wichtigsten Gründe, die Initiative abzulehnen?
Erstens: Kontingente führen nicht automatisch zu einer tieferen Zuwanderung. Wir hatten zum Beispiel in den 1960er-Jahren mit Kontingenten eine grössere Zuwanderung als heute. Zweitens: Das Einzelbewilligungssystem würde einen Bürokratieschub auslösen und eine vernünftige Planung verunmöglichen. Das wäre Gift für die Wirtschaft, gerade auch für die KMU. Zudem, und das ist das dritte Argument, wären die Folgen für den bilateralen Weg mit der Europäischen Union ungewiss.

Was meinen Sie konkret mit ungewiss?
Wir bewegen uns mit der Personenfreizügigkeit in einem Kernbereich der bilateralen Verträge. Da geht es nicht ums Kleingedruckte. Wir müssten mit der EU über eine Sonderbehandlung in einer der Grundfreiheiten der Union verhandeln. 28 Staaten müssten zustimmen. Wohin das führt, ist ungewiss. Diese Unsicherheit würde für unsere Wirtschaft im Austausch mit der EU, unserem wichtigsten Handelspartner, zu einer grossen Belastung.

Es gibt also wenig Aussicht auf ein gutes Ende?
Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger müssen selbst beurteilen, wie realistisch eine Zustimmung aller EU-Staaten ist. Das Einzige, was heute sicher ist, ist die juristische Ausgangslage: Wenn wir uns nicht auf eine Sonderbehandlung in diesem Kernbereich einigen könnten und der Vertrag gekündigt werden müsste, würden automatisch auch die anderen bilateralen Verträge I wegfallen, die unseren Marktzugang zur EU sichern. Alles andere ist Spekulation.

Das ist nachvollziehbar. Dem gegenüber stehen Überfremdungsängste der Bevölkerung.
Und diese Ängste nehme ich sehr ernst. Aber sie sind nicht neu. Es gab sie immer wieder. Ich erinnere nochmals an die Sechzigerjahre. Damals führte eine Hochkonjunktur ebenfalls schon zu einer hohen Einwanderung. Auch damals wurde eine Überfremdungsinitiative eingereicht, die Schwarzenbach-Initiative. Die Initiative wurde dann vom Volk abgelehnt. Ging es damals einfach weiter mit der starken Zuwanderung? Nein, im Gegenteil. Mitte der 70er-Jahre brach die Wirtschaft wegen der Erdölkrise ein, und wir hatten einen Bevölkerungsrückgang!

Bei eigenen Bedürfnissen fordern die Initianten billige Arbeitskräfte - zum Beispiel bei den Bauern und in der Industrie -, auf der anderen Seite wollen sie mit diesen Menschen nichts zu tun haben. Ist das nicht ein Widerspruch?
Es ist zumindest erstaunlich. Zumal man weiss, dass man mit der Initiative die eigene Klientel, also die KMU, das Rückgrat unserer Wirtschaft, massiv belasten, ja bestrafen würde. Die Bewilligungs-Bürokratie würde grossen Aufwand und beträchtliche Kosten verursachen.

Die Folgen der Zuwanderung sind freilich nicht übersehbar…
Für den Bundesrat ist klar, dass das starke Bevölkerungswachstum der letzten Jahre auch zu ganz realen Problemen führte, gerade in den Städten. Stichworte: Wohnraum, Zersiedelung, Verkehrsaufkommen. Doch die Initiative löst kein einziges dieser Probleme. Weder verhindert sie Lohndumping, noch schafft sie bezahlbaren Wohnraum, noch schützt sie unsere Landschaften.

Hätte im Interesse der Klarheit der Initiativtext eine feste Kontingentzahl vorgeben müssen?
Die Initiative nennt tatsächlich keine Höchstzahl. Auch die Initianten haben bisher nie eine Zahl genannt. Im Initiativtext heisst es lediglich, eine Höchstzahl sei im gesamtwirtschaftlichen Interesse festzulegen. Was soll man damit anfangen? Soll man in der Landwirtschaft oder in der Bauwirtschaft zurückfahren, wo über 60 Prozent der Angestellten aus dem Ausland kommen? Soll der Bundesrat den Bauern sagen, ihr dürft so und so viele Ausländer anstellen, egal wie gross die Ernte ist? Oder sollen die Gastro- und Tourismusbetriebe zurückfahren? Oder die Spitäler, wo jede dritte Angestellte einen ausländischen Pass hat? Oder die Pharmaindustrie? Es besteht das Risiko, dass in diesem Verteilkampf, den es allenfalls geben könnte, die KMU unter die Räder kommen.

Viele Leute vermischen die Personenfreizügigkeit mit der Frage der Asylbewerber, womit sehr rasch die Kriminalität zum Thema wird. Wie ist das auseinanderzuhalten?
Die Vermischung von Arbeitsmigration und Asyl machen die Initianten selber.

Bewusst?
Das ist anzunehmen.

Wie erklären Sie den Unterschied?
Ich bin überzeugt, dass sich im Asylbereich gerade dank der guten und engen Zusammenarbeit mit den Kantonen im letzten Jahr vieles zum Guten gewendet hat. Die Bevölkerung sieht das. Sie ist sich aber auch bewusst, dass unsere Wirtschaft ausländische Arbeitskräfte braucht. Nebenbei: Trotz der Zuwanderung ist unsere Arbeitslosenquote eine der tiefsten in ganz Europa. Man beneidet uns darum.

Können Sie der Initiative überhaupt einen positiven Aspekt abgewinnen. Oder ist sie schlichtweg Populismus?
Ich finde die Diskussionen, die wir jetzt führen, sehr wichtig. Letztlich geht es um die Frage, wie wir unsere hohe Lebensqualität erhalten können. Und da habe ich eine klare Vorstellung: Wir brauchen Wachstum, um unseren Wohlstand sichern zu können. Es muss aber ein kluges, nachhaltiges Wachstum sein.

Wie soll das gehen?
Wir müssen dort anpacken, wo die Zuwanderung konkrete Probleme mit sich bringt, und diese lösen. Und das tun wir ja auch. Wir stimmen zum Beispiel am 9. Februar ja auch über den Ausbau der Bahninfrastruktur ab. Das ist ein grosses, wichtiges Projekt für unser Land. Es zeigt, dass wir im Moment, in dem es einen Ausbau braucht, auch die notwendigen Investitionen machen. Das ist nachhaltig. So gestalten wir die Zukunft unseres Landes.

Bei den Bauern sind sich Vorstand und Mitglieder in der Sache uneinig. Gehört das zur Schweiz, dass sich Führung und Basis streiten?
Meinungsvielfalt war immer eine Qualität in unserem Land. Wichtig ist, dass Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sich wirklich informieren. Auf die direkte Demokratie können wir stolz sein. Sie ist etwas Wunderbares, aber auch mit einer grossen Verantwortung verbunden. Gerade bei Grundsatzentscheidungen wie in diesem Fall. Darum bin ich froh, dass sich die Bürgerinnen und Bürger so aktiv informieren.

Mit welcher Zuwanderungsrate ist künftig zu rechnen, wenn die Initiative abgelehnt wird und die Personenfreizügigkeit bleibt?
Eine Zahl zu nennen wäre ebenso unseriös wie den Verlauf der Konjunktur in den nächsten Jahren voraussagen zu wollen. Wenn die Wirtschaft gut läuft und es uns gut geht, haben wir eine grössere Zuwanderung, schwächelt die Wirtschaft, geht die Zuwanderung zurück. Nehmen wir ein Beispiel: Irland hatte ein sehr starkes Wirtschaftswachstum. 2007 lag die Arbeitslosigkeit bei vier Prozent, Irland war ein Einwanderungsland. Nach der Finanzkrise erholte sich die Wirtschaft nicht. Heute liegt die Arbeitslosigkeit bei 12,6 Prozent. Irland wurde zum Auswanderungsland. Das zeigt, wie schnell es kehren kann.

Der Regulator der Zuwanderung ist und bleibt also die Wirtschaft?
Das war in den letzten 100 Jahren immer so. Und das gilt auch für alle anderen Länder. Vielleicht ist noch interessant zu wissen, dass der Bundesrat in den 1960er-Jahren eine Studie in Auftrag gab über die Entwicklung der Schweizer Bevölkerung. Diese kam zum Schluss, im Jahre 2000 habe die Schweiz zehn Millionen Einwohner. So viel zu den Wachstums- und Zuwanderungsprognosen. Lieber als um Prognosen kümmere ich mich deshalb um reale Herausforderungen. Schauen wir also nach vorn, wir sind gut aufgestellt für die Zukunft.

Letzte Änderung 15.01.2014

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