"Es geht um eine Weichenstellung"

Ostschweiz am Sonntag; David Schaffner, Marina Winder
Ostschweiz am Sonntag: "Bundesrätin Simonetta Sommaruga warnt das Gewerbe, dass ein Ja zur Zuwanderungs-Initiative schaden würde. Kleine Firmen hätten Mühe, genügend Bewilligungen für ausländische Arbeitskräfte zu erhalten."

Frau Bundesrätin Sommaruga, die Gegner-Front zur Masseneinwanderungs-Initiative bröckelt. Nach dem Aargauer hat auch der St. Galler Gewerbeverband die Ja-Parole beschlossen. Müssen Sie nun zittern?
Nein, ich zittere nicht vor Entscheiden des Volks. Unsere direkte Demokratie lebt von unterschiedlichen Meinungen und der Auseinandersetzung vor einer Abstimmung. Am 9. Februar entscheiden wir über eine Weichenstellung. Wollen wir den freien Personenverkehr oder zurück zu Kontingenten? Sagt das Volk Ja zur Initiative, hat dies weitreichende Folgen für die Wirtschaft und unseren Wohlstand.

Nun stellt sich aber gerade ein Teil der Wirtschaft dagegen. Trifft es denn zu, dass vom freien Personenverkehr vor allem die grossen Firmen profitieren, während die Gewerbler unter existenziellen Konkurrenzdruck geraten?
Dass einzelne regionale Verbände ein Ja empfehlen und damit eine andere Meinung vertreten als ihr nationaler Verband, ist ihr gutes Recht. Das gehört zur demokratischen Kultur. Alle nationalen Verbände wie Economiesuisse, Arbeitgeber- und Bauernverband empfehlen ein Nein. Und zwar mit den gleichen Argumenten. Wir stehen gut da. Nach zehn Jahren Personenfreizügigkeit gehören wir weltweit zu den Ländern mit der tiefsten Arbeitslosigkeit. Eine Annahme würde bestehende Probleme nicht lösen, sondern neue schaffen, zum Beispiel eine beträchtliche Bürokratie für die Arbeitgeber.

Welchen zusätzlichen Papierkram müssten die Firmen denn künftig erledigen?
Die Initiative verlangt, dass jede Firma für jede einzelne ausländische Arbeitskraft den Nachweis erbringt, dass sie die Stelle nicht durch eine Schweizerin oder einen Schweizer besetzen kann. Diese Regelung würde auch bei der Anstellung von Grenzgängern gelten. Aufwand und Kosten wären beträchtlich, besonders für das Gewerbe und die kleinen und mittleren Firmen.

Dem Gewerbe entstünde durch ein Ja also der grösste Schaden?
Grosse Firmen könnten den zusätzlichen Aufwand besser verkraften, indem sie Dritte damit beauftragen. Kleine Betriebe aber müssten sich wohl selber abmühen. Hinzu kommt, dass die Unsicherheit steigt. Wie hoch sind die Kontingente? Sind sie schon ausgeschöpft? Ein Beispiel: Wenn Anfang Jahr das Kontingent für die Bauern festgelegt wird und es dann eine Rekordernte gibt, dürften den Landwirten wohl wichtige Arbeitskräfte fehlen, weil das Kontingent nicht ausreicht. Wer entscheidet, wer welches Kontingent bekommt? Stellen Sie sich die Verteilkämpfe zwischen den Branchen vor, zwischen den Regionen und den Kantonen.

Fordert die SVP mit ihrer Initiative eine Art Planwirtschaft?
Es gibt Personen, die es Planwirtschaft nennen. Die Initiative verlangt, dass die Behörden festlegen, wie viele Arbeitskräfte kommen dürfen, und nicht mehr die Firmen. In Bern also soll entschieden werden, wie viele Arbeitskräfte die Ostschweiz braucht. Wie viele Bewilligungen es sein sollen, sagen die Initianten nicht. Kürzlich war von jährlich rund 45 000 die Rede. Das wäre also etwas mehr als die Hälfte der heutigen Zuwanderung. Jeder zweite Arbeitgeber könnte künftig kein ausländisches Personal mehr einstellen, in allen Branchen, in der Industrie, im Gewerbe, aber auch im Gesundheitswesen und beim Staat.

Laut einer Umfrage der SRG ist zwar eine Mehrheit des Volkes gegen das Anliegen, gleichzeitig sieht die Mehrheit in der starken Zuwanderung ein Problem. Wie viele Einwohner verträgt die Schweiz, bis sich das Volk gegen den Personenverkehr ausspricht?
Wie viel Zuwanderung die Schweiz verträgt, haben sich die Menschen bereits Ende der 60er-Jahre gefragt. Damals hatten wir eine höhere Zuwanderung als heute, jährlich kamen 140 000 bis 200 000 Personen neu in die Schweiz, die Saisonniers nicht eingerechnet. Auch damals wurde eine Überfremdungs-Initiative eingereicht, die Schwarzenbach-Initiative. Das Volk sagte Nein, dennoch nahm die Zuwanderung ab. Denn die Wirtschaft litt in den Siebzigern unter der Ölkrise. In den 90er-Jahren war die Zuwanderung gering, die Wirtschaft stagnierte, und die Arbeitslosigkeit war deutlich höher. Die Zuwanderung steigt und sinkt mit der Konjunktur. Statt über Zahlen zu reden, müssen wir uns deshalb fragen, welches Wachstum wir wollen. Wie schaffen wir es, klug und nachhaltig zu wachsen?

Sprechen wir zu spät über solche Fragen? Hätten wir schon früher das Wachstum in eine gewisse Richtung lenken müssen?
Nein, wir sprechen nicht zu spät darüber. In den letzten Jahren waren wir in einer ausserordentlich starken Position. Während viele Länder in Europa grosse Probleme hatten und sich verschulden mussten, ging es uns derart gut, dass wir 18 Milliarden Franken Staatsschulden abbauen konnten. Solange es uns gut geht, können wir selber entscheiden, was für ein Wachstum wir wollen. Im Kanton Zug hat die Regierung kürzlich entschieden, dass sie ein moderates Wachstum will und deshalb kein neues Bauland mehr eingezont. Wachstum soll nicht mehr zulasten der Landschaft gehen. Die Bürgerinnen und Bürger sorgen sich um das Kulturland, um die Arbeitsbedingungen und um bezahlbare Wohnungen. Auf all diese Fragen gibt die Initiative keine Antworten.

Im Asylwesen haben sich die Kantone diese Woche eine neue Struktur gegeben. Sie teilten das Land in sechs Regionen auf, in denen es ein bis zwei Asyl-Bundeszentren geben soll. Geht es nun endlich vorwärts mit der Eröffnung dieser Anlagen?
Ja, es geht vorwärts, und es begann schon vor einem Jahr. Damals hatten wir die erste nationale Asylkonferenz. Die Kantone haben einstimmig verabschiedet, was wir im Asylwesen gemeinsam erreichen wollen, rasche und faire Verfahren. Dazu braucht es die Bundeszentren. Nach dem Entscheid dieser Woche können Bund und Kantone nun mögliche Standorte prüfen.

Können Sie sagen, wo und wann die Behörden das nächste Zentrum eröffnen?
Anfang Jahr haben wir das Testzentrum in Zürich eröffnet. Dort führen wir die neuen, schnellen Asylverfahren durch und prüfen, wie gut sie funktionieren. Ende März findet die zweite nationale Asylkonferenz statt, so geht es Schritt für Schritt vorwärts.

Und wann eröffnen die Behörden das nächste Zentrum?
Das entscheiden wir gemeinsam mit den Kantonen. Wichtig ist, dass sich die Kantone nun einig sind über die Anzahl der Regionen. Sicher ist, dass wir nicht alle Zentren gleichzeitig eröffnen.

Die Kantone reissen sich nicht um die Zentren. Wissen Sie schon, wie die Standortkantone für ihre Aufgaben entlastet werden sollen?
Genau das haben die Kantone diskutiert. Sie haben sich darauf geeinigt, wie sie die Aufgaben verteilen. Künftig wird es Kantone geben, die ein Empfangszentrum haben, andere betreiben ein grosses Bundeszentrum. Wieder andere haben gar keine Zentren, nehmen dafür mehr Flüchtlinge auf. Diese Aufteilung ist neu. Es freut mich, dass wir mit den Kantonen so gut zusammenarbeiten, denn nur gemeinsam können wir sicherstellen, dass das Volk in unser Asylwesen Vertrauen hat.

Letzte Änderung 26.01.2014

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