"Volk soll wachsam sein"

Ostschweiz am Sonntag, David Schaffner und Felix Burch
Ostschweiz am Sonntag: "Justizministerin Simonetta Sommaruga kritisiert, dass die Pädophilen-Initiative gegen Grundsätze des Rechtsstaates verstösst. Das Anliegen fordert ein Berufsverbot für Täter und steht am 18. Mai zur Abstimmung."

Frau Bundesrätin, Sie haben sich in den vergangenen Wochen intensiv mit den Folgen von pädophilen Übergriffen beschäftigt. Wie leicht fällt es Ihnen, sich emotional abzugrenzen?
Das fällt niemandem leicht, auch mir nicht. Ich versuche es auch gar nicht. Ich habe mit Opfern gesprochen und Kinderschutzstellen besucht. Ich wollte persönlich wissen, wie die Fachleute arbeiten. Dabei habe ich viele erschütternde Berichte gehört. Das Thema Pädophilie geht mir und vielen anderen Menschen unter die Haut. Es beschäftigt mich aber nicht erst seit kurzem. Ich habe dem Parlament 2012 ein Gesetz vorgeschlagen, das Kinder und abhängige Personen besser schützt.

Sie meinen die Verschärfungen des Strafrechts, die das Parlament angenommen hat?
Ja, die Gesetzesänderungen sind beschlossen und treten nächsten Januar in Kraft. Das neue Gesetz ist umfassender als die Forderungen der Pädophilen-Initiative. Sie sehen nicht nur Sanktionen gegen Sexualstraftäter vor, sondern gegen Menschen überhaupt, die Gewalt an Kindern ausüben. Darüber hinaus erzielt das Gesetz präventive Wirkung: Organisationen wie Fussballvereine oder Krippen erhalten die Möglichkeit, einen speziellen Strafregisterauszug einzuholen. Damit können sie prüfen, ob die Person bereits einmal verurteilt wurde, die sich für eine Funktion oder Stelle bewirbt.

Hat die Gesellschaft in der Vergangenheit zu wenig gemacht gegen Pädophilie?
Ja, bis vor kurzem war es so: Das Berufsverbot für straffällige Personen war zu eng gefasst. Das ändert mit dem neuen Gesetz. Es sieht ein Verbot vor, das lebenslang sein kann, wenn es nötig ist, um die Gesellschaft zu schützen. Es gibt Personen, die unheilbar krank sind und ein Leben lang eine Gefahr darstellen. Solche Menschen sollen nie mehr mit Kindern arbeiten. Im Gegensatz zur Initiative ermöglicht das neue Gesetz zudem, Kinder auch in der Familie oder im Bekanntenkreis besser zu schützen, also dort, wo die meisten Übergriffe passieren. Die Gerichte können es einer Person verbieten, mit einem Kind in Kontakt zu treten. Überprüfen lässt sich das mit elektronischen Fussfesseln.

Sie haben im Fall von Pädophilie von einer unheilbaren Krankheit gesprochen. Warum ist es dann angebracht, nach zehn Jahren die Gefährlichkeit zu überprüfen? Das ist doch ein Widerspruch.
Nein, denn es gibt ja auch Täter, die nicht pädophil sind. Deshalb müssen wir die Massnahmen abstufen und nach einer gewissen Zeit überprüfen können. Es ist ein Grundpfeiler unseres Rechtsstaates, dass seine Massnahmen verhältnismässig sein müssen.

Um falsche Entscheidungen zu verhindern, brauchen wir Gutachten mit einer hohen Qualität. Wie wollen Sie das sicherstellen?
Die Kantone haben erkannt, dass Handlungsbedarf besteht. Sie haben beschlossen, die Zusammenarbeit zwischen den Behörden zu verbessern und bessere Standards zu schaffen. Solche Neuerungen bringen uns weiter. Was die Initiative hingegen fordert, ist der falsche Weg. Wir sollten den Richtern nicht die Möglichkeit nehmen, ein Urteil zu fällen, das der jeweiligen Tat angemessen ist. Es wäre das Ende der Justiz, wenn Richter keinen Ermessensspielraum mehr hätten.

Auf Ihren Antrag hat der Bundesrat die Durchsetzungs-Initiative für teilungültig erklärt. Wird es künftig öfter zu solchen Ungültig- und Teilungültigerklärungen kommen?
Wenn Bundesrat und Parlament eine Initiative oder einen Teil davon für ungültig erklären, geschieht dies nicht einfach so, aus taktischen Erwägungen heraus. Wir halten uns auch hier an die Verfassung. Sie schreibt uns vor, dass wir Initiativen, die gegen zwingendes Völkerrecht oder gegen die Einheit der Materie verstossen, für ungültig erklären. In Zweifelsfällen haben Bundesrat und Parlament bisher zugunsten der Initianten entschieden und die Volksrechte höher gewichtet. Und das soll auch so bleiben.

Umfragen ergeben, dass rund 74 Prozent des Volkes Ja stimmen will. Wie können Sie gegen diesen Trend antreten? Wie bringen Sie den Menschen bei, dass auch Täter, die sich an Kindern vergangen haben, Rechte haben?
Das wichtigste ist, dass die Schweizerinnen und Schweizer wissen: Das Parlament hat bereits ein griffiges Gesetz verabschiedet. Das Ziel der Initiative, dass pädokriminelle Täter nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen, ist damit erreicht. Die Bevölkerung kann daher mit gutem Gewissen Nein sagen zur Initiative.

Bei sexuellen Übergriffen gibt es eine hohe Dunkelziffer. Viele Fälle kommen nie vor ein Gericht, weil niemand klagt. Was kann die Gesellschaft dagegen tun?
Wir alle müssen lernen, genau hinzuschauen – in der Familie, im Bekanntenkreis, in den Schulen. Betroffene Kinder sprechen oft verschlüsselt über ihre Qualen, da muss man genau hinhören. Da sind nicht nur Lehrer oder Ärzte gefordert. Jeder einzelne muss einen Beitrag leisten.

Die Rheintalerin Anita Chaaban, die 1998 die erfolgreiche Verwahrungs-Initiative lanciert hatte, hat diese Woche eine neue Forderung präsentiert. Sie will, dass Richter oder Gutachter persönlich haften, wenn sie Straftäter falsch einschätzen und diese erneut eine Tat begehen. Was halten Sie davon?
Der Bundesrat äussert sich zu Initiativen erst dann, wenn sie zustande kommen. Ich mache auch hier keine Ausnahme.

Der Trend im Strafrecht geht seit Jahren in Richtung Verschärfung. Die Menschen sind weniger bereit als früher, in einem Täter auch einen Menschen zu sehen. Warum gibt es diese Entwicklung?
Auch mich wühlen Gewalttaten jeweils auf. Ich verstehe, dass Initianten in solchen Momenten ein gesellschaftliches Anliegen aufnehmen und noch nicht alles im Detail abklären. Die Aufgabe der Regierung und des Parlaments ist es dann aber, alle Details genau zu prüfen und einen Vorschlag vorzulegen, der allen Aspekten Rechnung trägt. Nach diesem Prozess sollten die Initianten dann aber auch bereit sein, ein Anliegen zurückzuziehen, wenn die wichtigsten Punkte aufgenommen wurden. Bei der Pädophilie-Initiative war diese Bereitschaft leider nicht da.

Dieses Beharren auf der eigenen Lösung macht Ihre Arbeit als Justizministerin zunehmend schwierig.
Es geht nicht um mich. Für die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wird es aber zunehmend anspruchsvoll. Sie haben das letzte Wort: Sie bestimmen über Artikel in der Verfassung, an die wir gebunden sind. Und die Mitglieder des Parlaments schwören bei ihrer Vereidigung, sich an die Verfassung zu halten. Ich finde es deshalb erstaunlich, dass einige von ihnen trotzdem Initiativen lancieren oder unterstützen, welche bewusst gegen die Verfassung verstossen.

Dennoch entscheidet sich das Volk immer öfter für Anliegen, die gegen die Verfassung oder das Völkerrecht verstossen. Woher kommt die Neigung, an Grundrechten zu ritzen?
Die Verfassung und internationale Verträge, welche die Schweiz unterzeichnet hat, schränken uns ein Stück weit ein. Das stimmt. Aber dasselbe System gilt ja auch innerhalb der Schweiz. Die Kantone haben zwar grosse Autonomie, sie müssen sich aber an die Bundesverfassung halten. Das ist sinnvoll, sonst würden die grossen Kantone die kleinen erdrücken. International ist es gleich. Völkerrechtsverträge sind Schranken, die die Staaten in ihre Grenzen weisen. Für kleine Länder wie die Schweiz ist das ganz wichtig. Sonst könnten die Grossmächte alles durchsetzen, was sie wollen.

Letzte Änderung 04.05.2014

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