"Die SVP betreibt Etikettenschwindel"

Aargauer Zeitung; Dennis Bühler, Jonas Schmid
Aargauer Zeitung: "Justizministerin Simonetta Sommaruga wirbt für ein Nein am 28. Februar – und wirft der SVP vor, mit falschen Behauptungen zu operieren."

Frau Bundesrätin, bei einem Interview vor zwölf Jahren antworteten Sie – damals noch Ständerätin – auf die Frage, was Politik könne, Politik sei wie Kammermusik. "Jeder muss seine ganzen Fähigkeiten einbringen, am Schluss aber hört man den Zusammenklang." Mit ihrer Durchsetzungsinitiative hält sich die SVP nun nicht an die Dirigentin. Wie wütend sind Sie?
Die SVP muss sich an niemanden halten, auch nicht an die Justizministerin. Aber auch sie sollte bedenken, wie stark sie Rechtssicherheit und Stabilität gefährdet, wenn sie solche Vorlagen lanciert. Die Durchsetzungsinitiative ist unmenschlich, sie bricht mit den Grundregeln der direkten Demokratie und ist eine Attacke auf unseren Rechtsstaat.

Sie wählen so deutliche Worte wie nie zuvor in einem Abstimmungskampf. Wäre ein Ja am 28. Februar für Sie eine persönliche Niederlage?
Unmissverständliche Worte sind nötig. Die Durchsetzungsinitiative macht alle Ausländer in der Schweiz – zwei Millionen Menschen – zu Bürgern zweiter Klasse. Auch Secondos, also Menschen, die hier geboren und zur Schule gegangen sind, die hier ihre Steuern zahlen und nie in einem anderen Land gewohnt haben.

Nochmals: Wie stark träfe Sie eine Annahme der Initiative persönlich? Würden Sie gar zweifeln, ob Sie dieser Bevölkerung weiterhin Justizministerin sein möchten?
Nein. Denn bei einem Ja verlören nicht nur ich und der Bundesrat, sondern auch eine Mehrheit der Parteien und Parlamentarier. 40 von 46 Ständeräten – alle vom Volk gewählt – sind gegen diese Initiative! Doch die Tatsache, dass Sie mir diese Frage stellen, zeigt, dass es bei dieser Initiative nur vordergründig um kriminelle Ausländer geht – in Tatsache aber um weit mehr.

Worum geht es denn?
Diese Initiative wirft eine der grundlegendsten Spielregeln unseres Rechtsstaates über Bord: die Gewaltenteilung. Mit der Initiative übernimmt die Bevölkerung die Rolle des Parlaments, indem sie eine Vielzahl direkt anwendbarer Artikel in die Verfassung schreibt und so die Gesetzgebung überspringt. Und sie schaltet die Richter aus, indem sie ihnen verbietet, bei einer Landesverweisung den Einzelfall zu prüfen.

Die SVP begründet die Durchsetzungsinitiative damit, dass Bundesrat und Parlament die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative mit einer Härtefallklausel verwässert hätten. Lügt die SVP?
Die SVP verschweigt, dass der Rechtsstaat ohne die vom Parlament zu Recht ins Gesetz aufgenommene Härtefallklausel ins Wanken gerät. Es ist eines Rechtsstaates unwürdig, wenn seine Richter keinerlei Ermessen mehr haben und nur noch wie Roboter Ausschaffungsentscheide abnicken dürfen.

Genügt die Ausschaffungsinitiative denn, um kriminelle Ausländer auszuweisen?
Bereits die Ausschaffungsinitiative ging sehr weit. Und sie wurde vom Parlament rigoros umgesetzt. Kriminelle Ausländer werden bereits mit dieser Gesetzgebung konsequent ausgeschafft. Ausnahmen können Richter einzig machen, wenn kein Risiko für die öffentliche Sicherheit besteht.

Am 28. Februar soll doch bloss durchgesetzt werden, was das Stimmvolk im Herbst 2010 mit der Annahme der Ausschaffungsinitiative beschloss. So jedenfalls verspricht es der Titel der Abstimmung.
Die SVP betreibt Etikettenschwindel: Sie nennt ihr Vorhaben Durchsetzungsinitiative, es ist aber ganz klar eine Verschärfungsinitiative. Die SVP behauptet, das Parlament habe seine Arbeit nicht gemacht. Das ist falsch. Das Gesetz zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative ist bereits verabschiedet. Wir haben übrigens schon heute eine der europaweit härtesten Ausschaffungsgesetzgebungen.

Sie übertreiben. Auch wenn Sie davor warnen, "Bürger zweiter Klasse" zu schaffen: Ausländer, die nicht gegen Gesetze verstossen, können auch nicht ausgeschafft werden.
Nicht ich übertreibe, die Initiative übertreibt es. Ein Beispiel: Nach einem feuchtfröhlichen Fest nach einer Lehrabschlussprüfung gehen irgendwann die Getränke aus, und eine Gruppe junger Erwachsener, Schweizer und Secondos gemischt, bricht in ein Gartenhäuschen ein und entwendet ein paar Flaschen Wein. Zwar werden alle bestraft, Schweizer und Ausländer. Letztere aber werden zusätzlich ausgeschafft. Automatisch, ohne dass ein Richter die Umstände des Falls berücksichtigen darf.

Wegen einer solchen Tat wird doch niemand Strafanzeige erstatten – und also niemand ausgeschafft.
Würden Sie keine Anzeige erstatten, wenn bei Ihnen eingebrochen wird? Entscheidend ist, dass den Richtern die Hände gebunden sind: Verurteilen sie einen Ausländer wegen einer solchen Tat, müssen sie ihn auch ausschaffen – ohne jede Ausnahme. Auch wenn die Schadenssumme klein ist, auch wenn es mildernde Umstände gibt.

Die Initiativgegner – Sie inklusive – argumentieren stets mit Bagatelldelikten. Gibt es denn auch Taten, die Ausschaffungen rechtfertigen?
Selbstverständlich. Das Gesetz zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative zieht die Grenze mit Bedacht: Es umfasst Mord, Vergewaltigung, schwere Körperverletzung und weitere gravierende Taten. Nicht aber Bagatelldelikte wie in meinem Beispiel. Die Durchsetzungsinitiative unterscheidet nicht zwischen Mord und Einbruchsdiebstahl, nicht zwischen Vergewaltigung und Arbeiten ohne Bewilligung. Das ist absurd.

In der Schweiz macht sich bisher nur die SVP für die kompromisslose Ausschaffung krimineller Ausländer stark. In Deutschland hingegen tun dies seit den Übergriffen von Köln in der Silvesternacht selbst Sozialdemokraten. Sind wir blauäugig, weil hier noch nie etwas ähnlich Gravierendes geschehen ist?
Sie vermischen Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Bei Übergriffen, wie sie in Köln geschehen sind, darf es bei uns null Toleranz geben. Für solche Taten gibt es keinerlei kulturelle Rechtfertigungen. Respekt für Frauen ist in unserer Gesellschaft zentral und auch mir persönlich ein grosses Anliegen.

Aber?
Die Durchsetzungsinitiative trifft eben auch die gut Integrierten. Menschen, die hier geboren und mit uns in die Schule gegangen sind, aber keinen roten Pass besitzen. Sie müssen das Land selbst wegen Bagatellfällen für mindestens fünf Jahre verlassen, auch wenn sie hier eine Familie zu ernähren haben. Um sie geht es am 28.Februar.

Die gesamte Schweizer Elite wehrt sich vehement gegen die Initiative. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit nicht eben klein, dass die SVP obsiegt. Hat die Schweizer Elite ein Glaubwürdigkeitsproblem?
Von welcher Elite sprechen Sie? Gehören die 40 Ständeräte, alle vom Volk gewählt, die gegen diese Initiative sind, auch zur Elite? Und auch wenn sich Professoren, Künstler und Unternehmer gegen die Durchsetzungsinitiative ins Zeug legen: Die SVP ist selbst ebenfalls Teil der Elite. Wenn man die finanziellen Kräfteverhältnisse betrachtet, ist die SVP sogar die mit Abstand elitärste Partei unseres Landes.

Bei einem Ja zur Initiative könnte die SVP künftig bei jedem Gesetzgebungsprozess mit einer Durchsetzungsinitiative drohen und dem Parlament so jeglichen Spielraum rauben.
Es ist in der Tat denkbar, dass die SVP bei einem Ja auch in Zukunft versuchen würde, das Parlament in Geiselhaft zu nehmen.

Befürchten Sie, dass sie noch radikalere Anliegen lancieren wird?
Dass die SVP nicht davor zurückschreckt, immer noch radikalere Vorschläge zu lancieren, wissen wir inzwischen. Noch bevor ein Gesetz in Kraft getreten ist, droht sie mit der nächsten Verschärfung. Ich hoffe, die Stimmbürger haben bemerkt, dass man dieses Mal zu weit gegangen ist. Nicht umsonst sprach FDP-Präsident Philipp Müller von einem "Anschlag auf die Schweiz".

Im zu Beginn des Gesprächs erwähnten Interview sagten Sie 2004, manchmal hole Sie der Gedanken ein, dass womöglich alles sinnlos sei. Dann setzten Sie sich ans Klavier, spielten eine Bach-Fuge und rückten "den Kosmos wieder zurecht". Mussten Sie zuletzt häufiger Klavier spielen als auch schon?
Wir durchleben politisch schwierige, anspruchsvolle Zeiten. Viele Themen beunruhigen die Menschen: Die Terroranschläge, die im letzten Jahr mitten in Europa angekommen sind, die Migration und die schnell voranschreitende Globalisierung, um nur drei Herausforderungen zu nennen. Ich zähle auf die Bevölkerung, Vertrauen in die Stärke unseres Landes zu haben und in ihren direktdemokratischen Entscheiden Augenmass zu bewahren.

Das war nun Ihre Hoffnung für das Land. Welches ist das Rezept für Ihren eigenen Seelenfrieden?
Noch immer spiele ich wenn möglich jedes Wochenende Klavier. Das hilft mir, um zur Ruhe zu kommen. Aber es ist schon so: Für meinen Seelenfrieden ist auch der 28. Februar ein wichtiger Tag.

Letzte Änderung 01.02.2016

Zum Seitenanfang