Interview, 3. Januar 2021: NZZ am Sonntag; Stefan Bühler
Bundesrätin Karin Keller-Sutter erzählt, wie die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern sie als Jugendliche aufwühlte. Als Justizministerin kündigt sie nun eine neue Initiative gegen Gewalt an Frauen an.
Vor 50 Jahren erhielten die Frauen in der Schweiz das Stimmrecht. Was bedeutet Ihnen dieser Jahrestag?
Ich war damals 7-jährig und habe keine direkten Erinnerungen an den historischen Moment. Als ich aber später als Jugendliche merkte, dass ich als Mädchen mit weniger Rechten zur Welt gekommen bin als meine Brüder, hat mich das aufgewühlt, auch wenn zu Hause immer klar war: Ihr seid alle gleich. Und dass meine Mutter, die im Familienbetrieb voll mitgearbeitet hat, praktisch keine Rechte hatte – das kann ich auch heute noch kaum glauben.
Hat Sie diese Erfahrung auch politisch geprägt?
Jein. Ich war mir immer bewusst, dass diese Selbstverständlichkeit hart erkämpft werden musste – und ich habe mich dann immer am politischen Prozess beteiligt. Immerhin wurde im rechtlichen Bereich seither einiges erreicht. Zum Beispiel im Eherecht. Zudem steigt die Zahl der Frauen in Hochschulberufen, etwa im Anwaltsberuf, in der Medizin. Ich bin überzeugt, dass je länger je mehr Frauen Karriere machen werden. Deshalb ist für mich nun die Vereinbarkeit von Beruf und Familie die Kernfrage der Gleichstellung. Genug Angebote für ausserfamiliäre Kinderbetreuung sind darum zentral. Dafür engagiere ich mich persönlich in einer überparteilichen Allianz, an der auch die Wirtschaft beteiligt ist.
Da Sie Justizministerin sind, fällt allerdings die häusliche Gewalt in Ihren Verantwortungsbereich. Hier ist die Lage nach wie vor dramatisch: Tausende Frauen erleben jedes Jahr physische und psychische Gewalt. Rund jede zweite Woche wird eine Frau umgebracht. Tut der Staat genug, um Frauen zu schützen?
Das ist eine schwierige Frage. Häusliche Gewalt ist seit 2004 ein Offizialdelikt. Bei Verdacht muss die Polizei ermitteln, auch wenn keine Anzeige vorliegt. So wurde das Problem sicher auch sichtbarer. Früher tauchten diese Zahlen gar nicht unter häuslicher Gewalt auf. Ich glaube, dass wir grosse Fortschritte gemacht haben, auch beim Opferschutz und bei der Besserstellung der Opfer in Strafverfahren. Und rechtlich sind die Instrumente vorhanden, um Frauen zu schützen. Eine wichtige Rolle spielt zudem das Bedrohungsmanagement: Der Täter muss wissen, dass er auf dem Radar der Polizei und der Behörden bleibt. Und der Staat muss alles versuchen, um solche Verbrechen zu verhindern.
Was tun Sie als Justizministerin konkret?
Für mich ist das Thema nicht neu. Ich habe schon als Polizeidirektorin im Kanton St. Gallen das Prinzip «Wer schlägt, der geht» durchgesetzt: dass Täter aus der Wohnung weggewiesen werden und nicht die Opfer gehen müssen. St. Gallen war hier Pionier. Jetzt, 20 Jahre später, liegt aus dem Parlament eine Forderung bei mir auf dem Pult, bei häuslicher Gewalt die Live-Überwachung von Tätern zu erlauben. Und die Einführung von Notfallknöpfen zu prüfen, die potenzielle Opfer auf sich tragen, um in kritischen Situationen die Polizei alarmieren zu können.
Halten Sie solche technischen Lösungen für sinnvoll?
Es sind Themen, die grundsätzlich in der Zuständigkeit der Kantone liegen. Zudem ist mir die Fragestellung etwas zu eng. Zusammen mit dem Bundesamt für Justiz habe ich deshalb einen Dialog initiiert mit den kantonalen Polizeidirektoren, den Sozialdirektoren und dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Mann und Frau. An einer Tagung im Frühling wollen wir sämtliche Massnahmen zusammentragen, die helfen, Opfer von häuslicher und sexueller Gewalt noch besser zu schützen. Ich will eine Roadmap gegen Gewalt an Frauen, die zeigt, wo der Bund und die Kantone Verbesserungspotenzial haben.
Sind nur Behörden beteiligt?
Nein. Es sollen auch Organisationen dabei sein, die sich professionell in diesem Bereich engagieren. Gerade die Frauenhäuser sind nach wie vor sehr wichtig, um in akuten Krisen Schutz bieten zu können.
Im Parlament steht die Verschärfung des Sexualstrafrechts zur Diskussion. Es geht um die Einführung eines Straftatbestands für nicht einvernehmlichen Geschlechtsverkehr ohne physische Gewaltanwendung. Um dies verfolgen zu können, muss der Staat stark in die Privatsphäre von Paaren eingreifen können. Ist das für Sie als Liberale eine problematische Entwicklung?
Nein, gar nicht. Warum soll der Staat eingreifen, wenn es zu Übergriffen auf dem Trottoir kommt, aber nicht, wenn dasselbe im Haushalt passiert? Umgekehrt hiesse das, dass Übergriffe im Privaten geduldet wären. Das ist doch eine schreckliche Vorstellung: dass man sich in seinen eigenen vier Wänden nicht sicher fühlen kann. Ich kenne solche Fälle aus meiner Zeit als Polizeidirektorin: eine Frau, die sich aus Angst vor ihrem Mann über Monate jeden Abend im Zimmer einschliesst. Und der Mann plündert auch noch ihr Konto. Lebt man in einer normalen Beziehung, kann man sich gar nicht vorstellen, was es alles gibt.
Letzte Änderung 03.01.2021