Interview, 2. April 2022: Tages-Anzeiger; Charlotte Walser und Markus Brotschi
Tages-Anzeiger: "Justizministerin Karin Keller-Sutter glaubt, dass Flüchtlinge zum Kalkül des russischen Präsidenten gehören. Im Interview sagt die FDP-Bundesrätin, was Europa nun tun kann und warum sie Frontex für wichtig hält."
Frau Bundesrätin, Sie haben kürzlich ein Bundesasylzentrum besucht. Hat sich ein Bild besonders eingeprägt?
Ich war sehr erstaunt, wie ruhig es dort war, die Geflüchteten aus der Ukraine waren sehr gefasst. Es war auch sehr emotional, die Menschen haben sich bei mir bedankt, mich umarmt. Dann sah ich die Spielecken, und mir wurde klar, dass das eine Flucht von Kindern ist. Die Hälfte der Kinder in der Ukraine wurde bereits vertrieben, wie ich diese Woche in Brüssel erfuhr. Das ging mir unter die Haut. Es ist eine Fluchtbewegung von Frauen, die ihre Kinder in Sicherheit bringen wollen.
Mittlerweile sind über 20’000 geflüchtete Menschen aus der Ukraine in der Schweiz registriert. Läuft die Aufnahme bisher gut?
Gemessen an der Herausforderung klappt es gut. Es kommen täglich neue Fragen auf uns zu. Aber wir haben schnell die Weichen gestellt, indem wir uns für den Schutzstatus S entschieden haben. Wir haben auch frühzeitig alle wichtigen Akteure involviert, vor allem die Kantone, die Sozialpartner und die Hilfswerke. Die Schweiz ist mit ihrem Föderalismus wie eine Tinguely-Maschine. Es dauert, bis sie läuft. Aber wenn sie einmal in Gang gekommen ist, funktioniert sie.
Was bereitet Ihnen zurzeit am meisten Sorgen?
Wir haben keine Ahnung, wie viele Menschen noch kommen werden. Schon über vier Millionen Menschen haben die Ukraine verlassen. Russland zerstört bewusst zivile Strukturen, um die Lebensgrundlagen der Menschen zu vernichten. Putin versucht, mit Flüchtlingen Europa zu destabilisieren. Das ist eine hybride Kriegsführung.
Was kann die Antwort Europas darauf sein?
Die europäischen Länder müssen weiterhin gut zusammenarbeiten und sich koordinieren. Wir sind mit der grössten Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert, mit sehr vielen Flüchtlingen in sehr kurzer Zeit. Deshalb ist die Frage der Sicherheit auch so wichtig – und die Registrierung. Sonst verlieren wir rasch die Kontrolle und damit das Vertrauen der Bevölkerung. Zur Destabilisierung kommt es dann, wenn es namhafte Sicherheitsprobleme gibt.
Vor allem aus Deutschland gibt es Meldungen, wonach auch Menschen eingereist sind, bei denen Zweifel an der ukrainischen Herkunft besteht. Hat die Schweiz da die Kontrolle?
Tatsächlich klappt es mit der Registrierung noch nicht in allen Ländern. Die Schweiz ist jedoch gut aufgestellt. Wir haben auch zusätzliche Personen des Grenzwachtkorps eingesetzt, die auf gefälschte Ausweispapiere spezialisiert sind. Auf EU-Ebene soll nun eine Registrierungsplattform eingerichtet werden. So können Einträge abgeglichen werden. Wichtig ist auch, Minderjährige zu registrieren. Wir müssen wissen, wo die Kinder sind, auch wenn man sie nach dem Krieg sucht.
Die Solidarität in der Bevölkerung ist gross, es haben sich viele Gastfamilien gemeldet. Was passiert, wenn diese nicht mehr zur Beherbergung bereit sind?
Wir sind sehr froh über das private Engagement. Ich habe selber gesehen, wie sorgfältig die Flüchtlingshilfe die Wohnverhältnisse vorher abklärt. Aber natürlich kann es Unverträglichkeiten geben. Wenn die Geflüchteten länger Schutz bei uns brauchen, werden wir sicher für einen Teil der privat untergebrachten Menschen andere Unterkünfte suchen müssen. Das werden die Kantone und Gemeinden übernehmen müssen, die dafür zuständig sind. Ich werde demnächst eine Person einsetzen, die strategische Mittel- und Langfristszenarien entwickelt.
Es ist eine Debatte entbrannt über die Ungleichbehandlung ukrainischer und anderer Flüchtlinge. Was halten Sie von der Forderung, auch anderen Geflüchteten eine private Unterbringung zu ermöglichen?
Das ist heute schon möglich. Sobald der Bund den Kantonen Asylsuchende zuweist, kann der zuständige Kanton die private Unterbringung bewilligen.
Ein anderer Punkt ist das Reisen: Ukrainische Flüchtlinge dürfen reisen, für vorläufig Aufgenommene gilt ein grundsätzliches Reiseverbot. Migrationsrechtsexperten sagen, das sei nicht haltbar.
Da wird vergessen, dass wir über Europäer sprechen, die im Schengen-Raum ohnehin visumfrei reisen dürfen. Ich finde es seltsam, dass man nun Flüchtlinge gegeneinander ausspielt. Der Schutzstatus S wurde aktiviert, weil wir gar nicht in der Lage wären, so viele individuelle Asylverfahren zu bewältigen. Die Ukrainerinnen betrachten sich auch nicht als Flüchtlinge, die in der Schweiz bleiben wollen. Sie möchten so schnell wie möglich zurückkehren.
Möchten Syrerinnen und Syrer das nicht auch?
Da bin ich nicht sicher. Im Fall der Ukraine ist die Zusammensetzung der Flüchtlinge anders. Es sind mehrheitlich Frauen mit Kindern, die ihre Männer zurücklassen mussten.
Der Bundesrat hat sich beim Schutzstatus S stark an der EU orientiert. Für andere Kriegsflüchtlinge gelten in der Schweiz hingegen andere Regeln als in der EU. Namentlich beim Familiennachzug ist die EU grosszügiger. Wäre es nicht sinnvoll, die Regeln auch hier anzugleichen?
Grosse Unterschiede sind tatsächlich nicht sinnvoll. Doch Änderungen sind politisch umstritten. 2016 hat der Bundesrat eine Reform der vorläufigen Aufnahme vorgeschlagen, die das Parlament aber nicht weiterverfolgt hat. Als ich mein Amt antrat, nahm ich mir vor, die vorläufige Aufnahme anzupacken. Dann kam Corona, und wir hatten andere Sorgen. Jetzt beschäftigt uns der Ukraine-Krieg. Aber die Frage ist berechtigt.
Nach der Flüchtlingskrise von 2015 hat die EU beschlossen, Frontex auszubauen. Inzwischen ist Frontex zu einem Symbol der Abschottung und des Elends geworden. Bedeutet mehr Frontex mehr Elend?
Ich finde es falsch, Frontex auf Abschottung zu reduzieren. Der Schutz der Aussengrenzen ist das Gegenstück zur Reisefreiheit im Schengen-Raum. 2015 kamen auch Menschen in den Schengen-Raum, die später an Anschlägen in Paris und Brüssel beteiligt waren. Frontex ist vor allem ein Sicherheitsinstrument. Aber nicht nur. An den Grenzen zur Ukraine stehen aktuell rund 280 Frontex-Beamte im Einsatz. Sie unterstützen die nationalen Grenzschutzbeamten bei der Registrierung. Sie sorgen dafür, dass der Grenzübertritt flüssig vonstattengeht. Sie erstellen Lagebilder. Die Frontex-Beamten machen einen sehr wertvollen Job.
Am 15. Mai stimmen wir darüber ab, ob sich die Schweiz am Ausbau von Frontex beteiligen soll. Frontex wird vorgeworfen, in illegale Pushbacks verwickelt zu sein: Flüchtlinge werden zurückgewiesen ohne Möglichkeit, ein Asylgesuch zu stellen. Spricht das nicht gegen eine Beteiligung der Schweiz?
Die Verfehlungen sind unbestritten. Die Schweiz will einen wirksamen Grenzschutz, aber die Grundrechte müssen selbstverständlich gewahrt werden. Das hat auch Bundesrat Ueli Maurer, der für diese Vorlage zuständig ist, immer gesagt. Man kann schon gegen Frontex sein, aber Frontex wird bei einem Nein an der Urne nicht verschwinden. Die Schweiz hingegen riskiert den Ausschluss aus Schengen und Dublin. Es braucht aber Verbesserungen bei Frontex, da hat die EU-Kommission schon viel erreicht. Wenn Sie ein Haus mit einer kaputten Scheibe haben, reissen Sie auch nicht das Haus ab. Sie ersetzen die Scheibe. So muss man es auch bei Frontex machen.
Gemäss der ersten SRG-Umfrage wollen 63 Prozent Ja stimmen. Doch es gibt Widerstand von rechts und links. Die rechte Seite sagt, die Schweiz sollte lieber in den eigenen Grenzschutz investieren.
Die Kriminalität ist international, sie lässt sich ohne Kooperation nicht bekämpfen. Man kann EU-Befürworter oder EU-Gegner sein. Aber wenn es Bereiche gibt, in denen die europäischen Staaten zusammenarbeiten müssen, dann sind es Migration und Sicherheit. Beim Grenzschutz geht es nicht bloss um physische Kontrollen. Grenzschutz bedeutet heute, mit internationalen Polizeisystemen wie dem SIS vernetzt zu sein. Das ist ein Lebensnerv der Polizei.
Auf der linken Seite gibt es zwei Lager. Das eine kämpft unter dem Motto "No borders, no nations" gegen Grenzen. Können Sie der Idee einer weltweiten Personenfreizügigkeit etwas abgewinnen?
Nein, das ist eine Utopie. Zuwanderung bedingt immer Regeln, die in der Aufnahmegesellschaft akzeptiert sind. Es ist ein fragiles Gleichgewicht. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Masseneinwanderungsinitiative angenommen wurde. Auch die Personenfreizügigkeit mit der EU müssen wir immer wieder verteidigen. Das gelingt nur, wenn die Menschen für sich keine Nachteile befürchten. Oft sind es intellektuelle Eliten, die solche Konzepte vertreten. Menschen mit tiefen Einkommen dagegen fühlen sich bedroht durch eine Zuwanderung, die ihren Arbeitsplatz gefährden könnte.
Das andere linke Lager befürwortet zwar die Beteiligung der Schweiz am Frontex-Ausbau, fordert aber, dass die Schweiz im Gegenzug mehr Flüchtlinge aus dem Resettlement-Programm aufnimmt. Bei einem Nein an der Urne soll der Bundesrat dies der EU erklären und eine neue Vorlage ins Parlament bringen. Würde der Bundesrat dies tun?
Ich finde diesen Vorschlag eigenartig. Wenn das Volk Nein sagt, müssen wir der EU unverzüglich mitteilen, dass wir eine zwingende Weiterentwicklung des Schengen-Rechts nicht übernehmen wollen. So sind die Regeln. Der Bundesrat kann bei einem Nein nicht sagen: "Volk, das hast du nicht so gemeint." Das Referendumskomitee – und dieses ist massgeblich – ist klar gegen Frontex. Das steht so in seinem Argumentarium. Ein Nein muss man als Nein akzeptieren, auch demokratiepolitisch. Wir brauchen die Schengen-Zusammenarbeit aber wirklich, gerade in der jetzigen Situation. Wenn es einen besonders schlechten Moment gibt, um Schengen und Dublin infrage zu stellen, dann ist dieser Moment jetzt.
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Letzte Änderung 02.04.2022