"Weihnachten hat viel mit Heimat zu tun"

Interview, 23. Dezember 2022: Schweizer Illustrierte; Werner de Schepper

Schweizer Illustrierte: "Jesu Geburt bringt Spiritualität in den Alltag der Menschen. Auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter offenbart im Gespräch mit dem St. Galler Bischof Markus Büchel in der Klosterkirche ihren Glauben und ihre Demut."

Was ist für Sie, Frau Bundesrätin, die Botschaft von Weihnachten?

Karin Keller-Sutter: Was bedeutet eine Geburt? Eine Geburt ist der Grundstein fürs Lebensvertrauen. Das würde ich all denen sagen, die vielleicht mit der Menschwerdung Gottes Mühe haben.

Markus Büchel: Gott wird Mensch! Das ist eine Revolution. Er wird Mensch, und zwar hilflos und arm in der Welt. Das ist eine ungeheure Botschaft, die wir hier verkünden dürfen.

Karin Keller-Sutter: Eine Geburt gibt uns Mut, Vertrauen zu haben und einzustehen für Solidarität und Gerechtigkeit. Damit meine ich nicht ein naives Weltverbessern. Das wäre nicht ich. Aber es ist Aufgabe von Kirche und Politik, dass wir uns dafür einsetzen, dass die Menschen zuversichtlicher sind.

Markus Büchel: Das hast du gut auf den Punkt gebracht, Karin. Wir müssen eine neue Beziehung zu Weihnachten bekommen, damit wir wieder einen Inhalt sehen. Machs wie Gott, werde Mensch! Oder noch besser: Machs wie Gott, werde Kind! Darum gehts: zu spüren, wer bin ich als Mensch? Wer bin ich von Geburt her? Was habe ich von meinen Mitmenschen, von meiner Familie mitbekommen? Wo und wie bin ich selber Mensch geworden? Es sind die Wurzeln unseres Vertrauens, die uns auch in Zeiten des Krieges eine Hilfe sein können.

Der Bischof von St. Gallen holt ein Medaillon aus seiner Tasche, das ein ukrainischer Bischof von Papst Franziskus bekommen hat und an Büchel weiterschenkte. Es zeigt auf der einen Seite ein Bild einer Flüchtlingsfamilie, auf der anderen ein Gebet. "Dieses Gebet sagt uns, dass der Geist Gottes uns auch in solchen Zeiten begleiten möchte."

Karin Keller-Sutter: Du, Markus, hast vorhin von Wurzeln gesprochen. Weihnachten hat viel mit Heimat und Verwurzelung zu tun.

Markus Büchel: Absolut. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.

Karin Keller-Sutter: Es geht an Weihnachten um das Finden eines Ortes, wo wir eingebettet und integriert sind. Für die entwurzelten Menschen in der Ukraine hat Heimat nun eine ganz andere Bedeutung. Ich denke, für die vielen ukrainischen Frauen, die mit ihren Kindern in der Schweiz sind, ist diese Weihnachtszeit emotional schwierig. Denn Weihnachten ist wohl theologisch nicht das wichtigste Kirchenfest, aber das emotionalste …

Markus Büchel: Natürlich! Für die Menschen ist die Geburt Jesu ganz klar emotional das wichtigste Fest.

Karin Keller-Sutter zeigt Bischof Markus Büchel auf ihrem Handy ein Foto von sich in Bethlehem in der Geburtskirche aus dem Jahr 2015 und sagt: "Apropos emotionale Kraft der Weihnachtsbotschaft, ich habe heute Morgen dieses Foto gesucht. Wenn ich es sehe, bekomme ich immer noch Hühnerhaut. Ich hatte nie im Leben so eine starke körperliche Empfindung wie in Bethlehem, als ich mit meiner Hand die Stelle berührte, wo Jesus in der Krippe geboren wurde. Es hat mich durchgeschüttelt und berührt mich jetzt wieder. Später war ich auch noch in der Grabeskirche in Jerusalem. Auch das war eindrücklich …"

Markus Büchel: … aber es war nicht das Gleiche, denke ich.

Karin Keller-Sutter: Genau. Ich bin ein sehr rationaler Mensch, aber was ich in Bethlehem erlebt habe, kann ich kaum in Worte fassen. Allerdings hatte ich auch in der Grabeskirche eine eindrückliche Begegnung. Ein deutscher Priester, der uns begleitete, sagte mir: "Sie haben unten in der Grabstätte nicht viel Zeit. Legen Sie einfach Ihr Herz auf sein Grab." Von Bethlehem bis Jerusalem schliesst sich der Kreislauf von Jesu Leben und Botschaft.

Diese Geschichte von Maria, die Nazareth mit Joseph hochschwanger verlassen muss, hat einfach eine ungeheure erzählerische Kraft, die Kinder genauso fesselt wie uns als Erwachsene.

Markus Büchel: Das Schlimmste ist, wenn ein Kind diese Geschichte nicht mehr kennt. Darum finde ich es sagenhaft schön und wichtig, dass man in der Familie noch Krippenbilder macht oder gemeinsam eine Krippe bastelt. Wie es Karin richtig gesagt hat, haben Maria und Joseph beieinander Heimat gefunden, getragen von ihrem Glauben. Die Geschichten von Geburt und Flucht sind Lebensphasen-Geschichten der Menschheit – eingefangen in einer wunderbaren Geschichte, die jedes Kind versteht.

Karin Keller-Sutter: Als Kind ist Weihnachten einfach das Schönste, der Höhepunkt des Jahres. Angefangen beim Franz-Carl-Weber-Katalog (lacht) über das Christkind, das den Baum schmückt, bis zur Mutter, welche die Päckli macht. Für mich, die zwei Tage vor Weihnachten Geburtstag hat, war Weihnachten als Kind sowieso etwas ganz Besonderes. Ich habe stets bei Krippenspielen mitgemacht. Meine erste Rolle war "Ich bringe es Hempli". Nachher war ich ein Engel mit etwas mehr Text … Ich habe das in der Schule gern gemacht. Es war uns wichtig, dass dann die Eltern zum Krippenspiel kamen. Und auch der Besuch der Weihnachtskrippe in der Kirche St. Peter bei uns daheim in Wil – alles schöne und wichtige Rituale.

Und heute? Gibt es noch adventliche Rituale in Ihrem Leben?

Karin Keller-Sutter: Ich habe stets einen Adventskranz. Für mich ist Weihnachten heute vor allem eine Zeit der Ruhe und die schönste Zeit des Jahres, weil es die einzige Zeit ist, in der ein Bundesrat in Ruhe gelassen wird. Vermutlich, weil dann alle in Ruhe gelassen werden wollen.

Markus Büchel: Ich geniesse die Stadt St. Gallen an Weihnachten sehr. Wenn ich das Fenster öffne, sehe ich die Beleuchtung der Marktgasse und den Christbaum. Mit der Familie kommen meine Schwester und ich zu Weihnachten zusammen und feiern mit Nichten und Neffen. Geschenke sind nicht mehr so wichtig. Ich bin für den Weinkeller zuständig, meine Schwester fürs Essen.

Zerbröseln diese Rituale nicht in Zeiten von Coca-Colas Weihnachtsmann?

Markus Büchel: Es sind kleinere Gruppen, die feiern. Aber mich dünkt, es geht tiefer als früher. In der Coronazeit haben sich viele gefragt: Gibt es Menschen, die in der Weihnachtszeit einsam sind und Hilfe brauchen? Ich hoffe, es bleibt etwas davon und man geht mal beim Nachbarn klingeln und fragt: Wie geht es dir?

Karin Keller-Sutter: Hier in der Ostschweiz wird das Feiern von Weihnachten schon noch gelebt. Natürlich wird bei uns in der Familie der Kreis der Feiernden immer kleiner. Die Eltern sind gestorben, und diesen Sommer starb nun auch mein Schwiegervater. Dieses Jahr frage ich mich besonders: Gibt es eine Analogie zwischen der Weihnachtsgeschichte und dem aktuellen Geschehen in der Ukraine? Es sind ja 80 Prozent Frauen, die kommen. Und diese Frauen bringen ihre Kinder vor den russischen Bomben in Sicherheit, so wie Maria ihr Kind vor Herodes in Sicherheit gebracht hat.

Kann man angesichts des Krieges in der Ukraine nicht auch den Glauben verlieren?

Markus Büchel: Nicht den Glauben, aber ein falsches Gottesbild! Denn Gott ist Mensch geworden – mitten in die Situation des Leidens hinein bis ans Kreuz. Viele Menschen haben ein falsches Gottesbild entwickelt. Sie sagen, Gott ist der Schöpfer, glauben aber, sie seien der Schöpfer. Sie sagen, Gott ist allmächtig, glauben aber, sie seien allmächtig. Eigentlich denken sie, wir brauchen Gott nicht.

Karin Keller-Sutter: Ich habe einen Text von Margot Kässmann gelesen, der meinen Glauben gut auf den Punkt bringt. "Die Welt bleibt unerlöst. Das Kind in der Krippe setzt die bessere Welt nicht mit Gewalt um."

Markus Büchel: Wunderbar.

Karin Keller-Sutter: Man kanns nicht besser sagen. Man kann die Botschaft des Friedens und der Hoffnung nicht mit der Brechstange erreichen. Einiges gelingt, einiges gelingt nicht. Das muss man irgendwie auch akzeptieren.

Wo ist Gott in Ihrem Alltag?

Karin Keller-Sutter: Er ist bei den Menschen präsent, die Zuversicht behalten, sich einsetzen und andere unterstützen. Dazu zählen auch alle Behördenmitglieder und Privatpersonen, die jetzt den Ukraine-Flüchtlingen helfen oder sich um Frieden bemühen. Natürlich, Markus, gibt es überall auf der Welt Flucht und Elend. Aber es macht für uns hier einen Unterschied, dass es so nahe geschieht. Wenn ich mir überlege, dass mittlerweile in der Ukraine ein Drittel aller Kinder vertrieben ist, also in einem Land mitten in Europa, dann geht mir das sehr nahe.

Markus Büchel: Liebe Karin, ihr macht das sehr gut in der Politik. Etwa wenn ihr jungen Flüchtlingen ermöglicht, ihre Lehre hier zu beenden. Das ist Aufbauhilfe für ihr Land, wenn sie später zurückkehren. Aber im Moment fallen in der Ukraine noch Bomben.

Kann man sagen: Da hilft nur noch Beten?

Karin Keller-Sutter: Ja, es gibt diesen Spruch. Aber was heisst Beten? Ich bin eine Anhängerin des heiligen Benedikt, der sagt, Arbeit ist Gebet. Für mich heisst Gebet heute, als Bundesrätin tätig zu sein und die Kraft zu haben, den Weg zu finden, wenn man in der Verantwortung steht. Als Kind betete ich: "Lieber Gott, hilf mir, die Rechenprüfung zu bestehen." Aber Beten heisst nicht, bitte, Gott, gib mir jetzt das und das. Gebet heisst, in der Tätigkeit Sinn zu stiften.

Markus Büchel: Selbst ich als Bischof habe manchmal kaum Zeit fürs Beten. Ich brauche beides: ora et labora – Beten und Arbeiten. Die Arbeit wird dabei zum Gebet. Es braucht fürs Beten aber auch Zeit zum "Döreschnuufe". Manchmal ist es am siebten Tag der Woche, manchmal sind es für mich als Bischof auch mal mitten in der Woche ein paar Stunden.

Karin Keller-Sutter: Oft habe auch ich einfach keine Zeit. Logisch. Aber es braucht diese Demut und diese Zeit, um mal Distanz zu schaffen – zu sich selbst und zu dem, was passiert. Heute Morgen war ich zum Beispiel um halb sechs eine Stunde im Wald unterwegs. Ich brauche diese Zeit, um mal allein zu sein. Ich setze mich dann nicht unter Druck und sage: So, jetzt denke ich nach! Sondern es dreht von selbst, und es kommt dann meistens ein Gedanke. Auch am Mittwoch nach einer Bundesratssitzung probieren einige von uns, sich einfach mal kurz loszulösen und allein zu sein. Denn wir werden ständig bestürmt und befragt. Und so kann man nicht führen. Es ist wichtig, dass wir uns Puffer schaffen für die Selbstreflexion. Auch das Gespräch heute mit Markus ist so ein Moment, wo ich nachher weiterdenken kann.

Ist Demut nicht ein Wort, das aus der Zeit gefallen ist?

Karin Keller-Sutter: Ja, vielleicht, aber es ist zentral. Alles ist auf Zeit: unser Leben und unsere Aufgaben in diesem Leben. Auch das Bundesratsamt ist uns auf Zeit gegeben. In der Zeit, in der uns diese Aufgabe anvertraut ist, haben wir die Pflicht, etwas daraus zu machen. So wurde ich erzogen. Demut lehrt uns zu verstehen, dass es nicht immer nur um uns geht. Es geht nicht um mich, sondern um andere Fragen.

Zum Schluss noch mal eine Weihnachtsfrage: Sie als Bischof brauche ich das nicht zu fragen, aber Sie, Frau Bundesrätin, gehen Sie an Weihnachten noch in die Kirche?

Karin Keller-Sutter: Dieses Jahr sind mein Mann, mein verwitweter Bruder und ich erstmals nur zu dritt an Heiligabend. Wenn ich dann noch wach bin, möchte ich gern wieder einmal in die Mitternachtsmesse. Denn mit Corona war das alles sehr reduziert. Und für mich gibts fast nichts Eindrücklicheres als eine "Stille Nacht" in der Mitternachtsmesse.

Markus Büchel: In der Tat, das ist wie dein Erlebnis am Geburtsort Jesu in Bethlehem.

Letzte Änderung 23.12.2022

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