Es ist alles da, um die Schweiz zu verändern - eine Einladung an die Jugend

Bern, 01.08.2023 - Rede zum Nationalfeiertag von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider auf dem Rütli - es gilt das gesprochene Wort

Geschätzte Anwesende,
Der Moment: den feiern wir.
Der Ort: hier sind wir.
Die Geste: die kennen wir alle. Drei Finger. Zum Himmel erhoben. Ein heiliger Schwur.

Die Namen der drei Helden dieser Geschichte: Wir kennen sie.
Aber wissen wir auch, wie alt sie sind?

Diese Frage ging mir kürzlich durch den Kopf: Wie alt waren eigentlich Walter, Werner und Arnold, als sie den Rütlischwur leisteten?

Einige würden die Frage vielleicht zurückweisen. Hier, auf dieser Wiese der Nation, vermischen sich Geschichte und Legende, Fakten und Mythen. Aber wer nachforscht, findet eben doch verbürgte Tatsachen. Zum Beispiel, dass es hier in der Region damals zwei Werner Stauffacher gab. Einen alten. Und einen blutjungen. Da haben wir schon die nächste Frage: Welcher der beiden passt besser in die Rolle eines unserer Gründerväter?

Wie die Legende hat sich auch das Alter ihrer drei Helden mit der Zeit verändert. In der jüngeren Vergangenheit scheinen unsere drei Eidgenossen immer älter zu werden. Heute sehen wir sie fast nur noch als bärtige, grosse und weise Männer.

Im Bundeshaus kreuze ich oft die drei von James Vibert geschaffenen Steinkolosse: alle imposant, unverrückbar an ihrem Platz und – nun ja – nicht mehr ganz jung.

Warum sehen sie so aus? Warum wurden sie so geschaffen? Bezeugt die Dimension der Skulptur die Grösse der Heldentat? Je mehr Stein, desto mehr Bedeutung? Oder müssen sie so gross sein, weil wir so viel Bewunderung für sie empfinden? Weil wir uns jemanden, der solche Spuren in der Geschichte hinterliess, gar nicht anders vorstellen können, als mit breiten Schultern und mächtigem Körper?  Der Bund der Urkantone veränderte das Gesicht von Europa.

Aber braucht es dazu Weisheit? Braucht es einen Bart, um sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren? Braucht es die Erfahrung eines ganzen Lebens, um für eine bessere Zukunft zu kämpfen, koste es, was es wolle?

Und was, wenn sie gar nicht alle im gleichen Alter waren? Wenn es eine Art generationenübergreifendes Bündnis war? Alt und Jung, verbunden durch das Ziel, die Verhältnisse zu verändern?

Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.

So steht es in unserer Bundesverfassung, deren 175-jähriges Jubiläum wir dieses Jahr feiern. 175 Jahre! Ist diese Verfassung nun alt oder altehrwürdig?

La Suisse a voté sa dernière réforme il y a 24 ans. La constitution, elle aussi est vieille et jeune à la fois. N’est-elle pas le précieux alliage entre une sagesse séculaire et l’actualité de chacune de ses révisions ?
Quand il m’arrive de la relire, pour me rappeler non pas le libellé précis d’un article mais le fondement même de notre raison de vivre ensemble, l’esprit des lois au cœur des lois, je suis irriguée et inspirée par son progressisme, son audace, sa jeunesse.

Elle a su rester vivante. Elle n’est pas une légende. Et nous pouvons toutes et tous nous y référer régulièrement.
Je pense à l’article 8 alinéa 3 :
L’homme et la femme sont égaux en droit. La loi pourvoit à l’égalité de droit et de fait, en particulier dans les domaines de la famille, de la formation et du travail. L’homme et la femme ont droit à un salaire égal pour un travail de valeur égale.

Aus unserem Gründungsmythos haben es nicht nur die drei Eidgenossen ins Bundeshaus geschafft. Im Nationalratssaal, hoch oben, findet sich eine Statue der Stauffacherin, der Frau von Werner Stauffacher. Schiller hat ihr in seinem "Willhelm Tell" eine besondere Rolle zugeschrieben: Sie ist es, die die Männer auf den Gedanken bringt, einen Bund zu schliessen.

Aber war der Rütlischwur überhaupt eine reine Männersache? Auf einer 1. Mai-Postkarte von 1908 wird einer der drei Eidgenossen von einer Frau verkörpert. Ich überlasse es den drei Urkantonen zu entscheiden, wer diesen Frauenanteil für sich beanspruchen darf.

C’est le 7 février 1971, que le peuple suisse a voté une modification de sa constitution pour accorder aux Suissesses les mêmes droits politiques qu’aux Suisses. Le plus prometteur dans la Constitution, c’est sa nature évolutive. Garante d’un héritage, elle sait aussi se tourner vers l’avenir. Je ne dis pas qu’il est facile de modifier la Constitution. J’ai ici une pensée pour toutes les personnes qui se sont investies sans relâche pendant des décennies pour convaincre la société civile et les chambres fédérales de la nécessité évidente d’une égalité des genres. Il faut des convictions, de l’obstination et de la patience pour amener la Constitution à incarner les nouveaux idéaux ; toutefois elle contient en-elle-même les possibilités de son évolution. C’est grâce à son adaptation constante que cet instrument de collection, à l’instar d’un piano, possède toujours une sonorité exceptionnelle et permet de nouvelles performances.

All den jungen Menschen, um die es heute geht; all jenen, die uns im Fernsehen zuschauen, die am Radio zuhören, die im Internet über den Redetext scrollen oder denen ein Algorithmus auf Twitter, Insta und Tiktok Ausschnitte dieser Rede zuspielt; ihnen allen möchte ich zurufen: In der Bundesverfassung ist alles vorhanden. Alles, was ihr braucht, um euch auszutauschen, um euch zu engagieren, um euch einzumischen, um eure eigene Vision einer idealen Schweiz zu verwirklichen.

Zu den Kindern und den Jugendlichen steht in der Bundesverfassung:
...Kinder und Jugendliche sollen in ihrer Entwicklung zu selbständigen und sozial verantwortlichen Personen gefördert und in ihrer sozialen, kulturellen und politischen Integration unterstützt werden...

C’est peut-être cela la magie et la force de la constitution suisse : être suffisamment ancrée aux fondements, à l’essentiel, qu’elle offre à chaque Suissesse, chaque Suisse, de quoi défendre son point de vue dans un débat démocratique. Il est dès lors utile que la jeunesse aussi se l’approprie pour qu’un socle commun favorise le terreau fertile d’une solidarité intergénérationnelle. Pour vivre le présent avec confiance et continuer à créer l’avenir de notre pays, ici et ailleurs dans le monde.

La constitution favorise la prospérité commune, le développement durable, la cohésion interne et la diversité culturelle du pays, mais également un ordre international juste et pacifique.

"Die Jugend von heute liebt den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten soll. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Die heutigen Kinder sind Tyrannen." So sah es bereits Sokrates viele Jahrhunderte vor dem Rütlischwur.

Sokrates sollte man nicht leichtfertig widersprechen. Aber ich möchte auch nicht einstimmen in sein Klagelied über unsere Jugend. Weil sie es nicht verdient hat. Und weil wir diese Jugend brauchen. Geben wir ihr die Gelegenheit, sich auszudrücken und auf die Politik einzuwirken. Geben wir ihr Raum zum Diskutieren und Entwickeln ihrer Sicht der Schweiz. Wir, die Elterngeneration, müssen Hand bieten, um gemeinsam eine bessere Gesellschaft aufzubauen.

Viele Jugendliche, die ich treffe, wollen etwas bewegen, wollen etwas verändern, verbessern. Das sollten wir nutzen. Schliesslich wollen wir alle in einer gesünderen und gerechteren Welt leben. In der Jugend steckt viel Hoffnung. Hoffnung, die wir alle gut gebrauchen können. Vertrauen wir auf ihren Mut.

Auch unsere Bundesverfassung vertraut auf das Potenzial der Jugendlichen und schreibt dazu in Artikel 11:
Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung.

Si on y est attentif, on le voit bien. La Constitution autorise la possibilité d’un équilibre entre le soin à apporter à nos racines et à nos valeurs et l’opportunité de laisser s’exprimer la créativité, la nouveauté.

Et puisqu’on parle de nouveauté, moi, qui suis la Conseillère fédérale la plus récente, quel âge j’ai ? Bon je suis la plus récente, mais la jeunesse ne dure que peu de temps…
Il semblerait que je suis celle qui a bousculé les codes, qui doit encore faire ses preuves, mais je suis aussi clairement celle qui a le plus de cheveux gris. Alors, l’âge c’est très relatif.

Die grosse Stärke unserer Gesellschaft ist das Miteinander. Dazu steht in der Präambel der Bundesverfassung:
[...]um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken, im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben, im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen, gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen[...]

Es gibt das biologische und das seelische Alter. Unsere drei Gründerväter sind alles gleichzeitig: jung und alt.
Entscheidend war das Gefühl, das sie beseelte. Eine unbändige Jugend muss sie innerlich getrieben haben.

Nur so konnten sie so leidenschaftlich von einer besseren Zukunft träumen, dass sie es wagten, gemeinsam zur Tat zu schreiten und den Lauf der Geschichte zu ändern.

Diese Drei bilden eine symbolische Brücke zwischen den Generationen.

Das ist meine Botschaft zum 1. August 2023 und dem 175-jährigen Bestehen der Bundesverfassung: Viele politisch engagierte Erwachsene identifizieren sich mit den drei Eidgenossen, ihren Werten und ihrer Symbolik. Doch lassen wir uns nicht allzu sehr beeinflussen durch gemalte oder gemeisselte Bilder.

Junge, Frauen oder Bewohner von jüngeren Kantonen können sich stolz auf die drei Eidgenossen berufen. Unsere Geschichte, unsere Symbole und unsere Bundesverfassung sind für absolut alle da. Sie helfen uns, gemeinsam eine bessere Schweiz zu erschaffen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen noch einen schönen 1. August.


Adresse für Rückfragen

Kommunikationsdienst EJPD, info@gs-ejpd.admin.ch, T +41 58 462 18 18


Herausgeber

Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement
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Letzte Änderung 18.12.2023

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