Bern, 28.10.2016 - Grusswort von Bundesrätin Simonetta Sommaruga anlässlich der Vernissage zur Ausstellung "FLUCHT" im Landesmuseum in Zürich. Es gilt das gesprochene Wort.

Flüchtlinge einst und heute

Geschätzte Gäste, Liebe Ausstellungsmacherinnen und -macher

Nicht weit von hier entfernt, im Hauptbahnhof Zürich, sind vor 60 Jahren Sonderzüge mit Flüchtlingen eingefahren. Die Flüchtlinge stammten aus Ungarn, und ihr Schicksal hat hierzulande eine Generation bewegt. Schweizerinnen und Schweizer haben Kleider gesammelt, sie haben Unterkünfte organisiert, und sie haben gespendet. Während einer Schweigeminute stand das ganze Land still.

Das war 1956, als Truppen der Sowjetunion in Budapest einmarschiert sind.
In den Nachrichten hiess es damals, die Flüchtlinge seien der Hölle entronnen.

Heute ist die Hölle anderswo, in Aleppo zum Beispiel, auf Flüchtlingsbooten im Mittelmeer, oder im Süd-Sudan.

Und wir alle sind Zeugen. Wir sehen das Elend im Fernsehen, wir hören im Radio von den Ertrunkenen, und wir lesen in der Zeitung von der Zerstörung und den Toten.

Und doch kommt es vor, dass wir seltsam unberührt bleiben, wenn die Medien tagtäglich aus den Krisengebieten berichten.

Es ist doch so: Viele von uns weinen, wenn sie am Fernsehen Xavier Kollers "Reise der Hoffnung" schauen. Und sie schalten um, wenn die Nachrichten Bilder von ertrinkenden Flüchtlingen zeigen.

Metaphern und Zahlen

Wie weit weg das Schicksal der Flüchtlinge für uns teilweise ist, zeigt sich auch in der Sprache. Wir schreiben von Migrantenströmen, die Europa heimsuchen. Wir lesen von einer Flüchtlingswelle, die über uns hereinbricht. Wir machen die Flüchtlinge so zu Naturgewalten.

Gleichzeitig lassen wir persönliche Schicksale hinter Zahlen und Statistiken verschwinden. Wie viele Flüchtlinge sind ertrunken? Wie viele schaffen es bis zu uns? Und wie viele haben wir schon wieder zurückgeschafft?

Wir schaffen so Distanz. Diese Distanz erlaubt es uns, unbeschwert den Morgenkaffee zu geniessen, während gleichzeitig Kinder in Kriegsgebieten unter Trümmern begraben werden.

Vielleicht muss das teilweise so sein. Wahrscheinlich können wir gar nicht am Schicksal eines jeden Flüchtlings teilhaben - weil wir sonst am Elend zerbrechen würden, mit dem wir konfrontiert sind.

Es sind deshalb Ausnahmesituationen, in denen wir wirklich Trauer zulassen. Zum Beispiel dann, wenn wir ein Bild sehen wie jenes des dreijährigen Aylan, der tot an die türkische Küste geschwemmt worden ist.

Viele von Ihnen kennen auch das Foto des vierjährigen Omran aus Aleppo. Es zeigt den Jungen, wie er in einem Krankenwagen blutüberströmt und mit Staub bedeckt ausdruckslos vor sich hin starrt.

Und vielleicht haben Sie auch schon das Bild des fünfjährigen Lamar gesehen, wie er in einem Wald in Serbien am Boden schläft, in der Nähe der geschlossenen ungarischen Grenze.

Eine wichtige Ausstellung

Fotos wie jene der drei Knaben gehen um die Welt. Sie haben eine unglaubliche Wucht, sie rütteln uns auf.

Doch eigentlich passiert das, was die Bilder zeigen, jeden Tag. Nur ist kein Fotograph dabei. Und die Schicksale der Betroffenen verschwinden hinter Zahlen und Metaphern.

Das ist fatal: Schliesslich es geht um Menschenleben.

Es braucht deshalb immer wieder Momente, in denen wir uns in Erinnerung rufen, was es heisst, ein Flüchtling zu sein.
Es braucht deshalb Ausstellungen wie diese. Sie machen uns bewusst, wieviel auf dem Spiel steht.

Dieses Bewusstsein macht politische Entscheide nicht leichter. Im Gegenteil. Es hilft uns aber, dass wir die richtigen Entscheide treffen.

Natürlich kann man bei einer humanitären Katastrophe, wie wir sie in Syrien erleben, nie genug helfen. Aber immerhin helfen wir.
Wir haben Schutzbedürftige aus dem Kriegsgebiet direkt zu uns geholt.
Wir haben zahlreiche syrische Frauen, Männer und Kinder über das Asylverfahren bei uns aufgenommen.
Und wir leisten Hilfe vor Ort. Wir sorgen dafür, dass Flüchtlinge sauberes Trinkwasser haben oder wir unterstützen Nachbarländer wie Jordanien, damit Flüchtlingskinder zur Schule gehen können.

Mit diesen Entscheiden haben wir einigen Menschen das Leben gerettet und vielen eine Zukunft gegeben.
Zugleich haben wir gezeigt, dass die Schweiz auch heute nicht wegschaut, wenn Menschen auf der Flucht sind.

Schauen wir gemeinsam hin, meine Damen und Herren, schauen wir nicht weg.

Ich möchte Ihnen allen für Ihr Engagement danken, und ich überbringe Ihnen hiermit die Grüsse der Landesregierung.

 


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Letzte Änderung 19.01.2023

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