"Mein Leitstern ist immer die menschliche Würde"

Links, Lisa Schädel
Links: "Simonetta Sommaruga befindet sich mitten in einem harten Abstimmungskampf gegen die SVP-Masseneinwanderungsinitiative – ein Kampf, den sie unbedingt gewinnen will. Mit 'links' hat sie über die diskriminierende und untaugliche Initiative gesprochen, über flankierende Massnahmen als echte Lösung, die Migrationsdebatte innerhalb der SP und die menschliche Würde als Leitstern bei schwierigen Entscheidungen."

Simonetta, bist du mit politischen Vorsätzen ins neue Jahr gestartet?
Ja, ich habe einen kurzfristigen Vorsatz gefasst, der mir sehr wichtig ist. Wir müssen die Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative gewinnen. Es geht hier um sehr viel. Es ist keine Abstimmung, bei der man Symbole oder Zeichen setzen kann, wie ich es immer wieder höre. Es geht hier um eine Systemfrage, nicht um das Kleingedruckte. Es genügt deshalb nicht, gegen die Initiative zu sein. Wir müssen dann tatsächlich alle auch an die Urne und geschlossen gegen diese Initiative stimmen.

Wo siehst du die grössten Probleme der Initiative?
Erstens reduziert die Initiative Ausländerinnen und Ausländer auf ihre Arbeitskraft. Und selbst für Asylsuchende will sie eine Höchstzahl. Das ist nicht das Menschenbild, das ich vertrete. Zweitens schottet die Initiative die Schweiz von Europa ab, unserem wichtigsten Handelspartner. Und drittens würde die Initiative – wenn wir sie beim Wort nehmen – mit ihrem Schweizervorrang zu einer massiven Diskriminierung der Secondos führen. Ausserdem macht mir auch die riesige Bürokratie Sorgen, welche die Initiative gerade auch für die KMU mit sich bringen würde.

Ausgerechnet von der sonst so staatskritischen SVP kommt eine solch bürokratielastige Initiative…
Ja, das ist sehr erstaunlich.

Die Initiative scheint dennoch bei weiten Teilen der Bevölkerung auf Zustimmung zu stossen…
Das ist eine interessante Frage: Warum erreicht diese Initiative viele Menschen auch ausserhalb der SVP, selbst Leute in unseren Kreisen? Es lohnt sich, darüber nachzudenken. Ich bin sehr viel unterwegs, spreche mit den Menschen und spüre ein Unbehagen in Teilen der Bevölkerung. Das ist nicht ungewöhnlich. Immer, wenn die Bevölkerung rasch gewachsen ist, gab es ein solches Unbehagen. Das war in den 60er-Jahren so, als die Zuwanderung noch höher war als heute. Als Reaktion darauf gab es damals eine Überfremdungsinitiative, die „Schwarzenbach-Initiative“, die dann abgelehnt wurde. Und jetzt haben wir die Masseneinwanderungsinitiative. Es ist richtig, dass wir über Wachstum nachdenken. Aber die Antwort ist nicht eine Initiative, die neue Probleme schafft.

Wird es möglich sein, die Leute davon zu überzeugen, dass die Initiative die Probleme eben nicht löst?
Ich stelle fest, dass es ein sehr grosses Informationsbedürfnis gibt. Deshalb ist es mir sehr wichtig zu zeigen, dass diese Initiative kein einziges der bestehenden Probleme löst. Abgesehen davon, dass Kontingente die Zuwanderung gar nicht mindern. So hatten wir mit dem Kontingentssystem in den 60er-Jahren eine höhere Zuwanderung als heute.

Wie lassen sich die Probleme lösen? Die SP schlägt einen Ausbau der flankierenden Massnahmen vor. Ist das der richtige Weg?
Ja, das ist der richtige Weg. Es ist ein grosses Verdienst unserer Partei, dass wir uns damals bei der Einführung der Personenfreizügigkeit vehement für die flankierenden Massnahmen eingesetzt haben – damit dieses System nicht zulasten unserer guten Arbeitsbedingungen geht. Es braucht flankierende Massnahmen, damit wir in der Schweiz ein kluges und nachhaltiges Wachstum haben. Der Bundesrat hat die flankierenden Massnahmen in den letzten zwei Jahren ständig verbessert und er erwartet von den Sozialpartnern, dass sie aufzeigen, wie man Missbräuche von Unternehmen bekämpft, die Gesamtarbeitsverträge unterlaufen. Ich selbst verstehe flankierende Massnahmen in einem breiten Sinne: Wir müssen dafür sorgen, dass weiterhin bezahlbarer Wohnraum verfügbar ist. Wir müssen unsere Landschaften schützen, die Zersiedelung stoppen und den öffentlichen Verkehr ausbauen. Dies sind Massnahmen, die nebst den klassischen flankierenden Massnahmen auf dem Arbeitsmarkt umgesetzt werden müssen.

Auch Rudolf Strahm, mit dem du in der Vergangenheit eng zusammengearbeitet hast, hat kürzlich das Thema flankierende Massnahmen angesprochen. Er hat die Möglichkeit eines linken Ja zur SVP-Initiative ins Spiel gebracht, als Druckmittel gegen den Bundesrat, damit dieser zusätzliche flankierende Massnahmenumsetzt. Kannst du seine Argumentation nachvollziehen?
Achtung: Rudolf Strahm hat sich nie für ein Ja zur Initiative ausgesprochen. Er hat sich für einen gesetzlichen Mindestlohn in den Nicht-GAV-Branchen ausgesprochen und für weitere flankierende Massnahmen. Diese Argumentation ist durchaus nachvollziehbar, finde ich. Besonders auch in Bezug auf die Frage der Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien, die uns noch beschäftigen wird. Aber für mich ist absolut klar: es braucht ein Nein zur Masseneinwanderungsinitiative. Diese Initiative eignet sich nicht als Druckmittel, denn hier entscheiden wir über einen Systemwechsel. Eine Annahme der Initiative würde das Ende der Personenfreizügigkeit bedeuten und eine Rückkehr zum alten Kontingentssystem, das wir bereits kennen – mit all seinen Nachteilen.

Strahm hat auch kritisiert, dass die SP bei Migrationsfragen zu weit von den Bürgersorgen entfernt sei. Teilst du seine Ansicht?
Die Migrationsdebatte polarisierte lange Zeit sehr stark zwischen links und rechts. In der SP waren lange, vielleicht zu lange, gewisse differenzierte Positionen tabu. Ich stelle aber fest, dass sich das in der Zwischenzeit sehr verändert hat. Es gibt nun auch in unserer Partei eine lebhafte Diskussion rund um diese Themen, was ich sehr begrüsse. Ich bin auch der Meinung, dass sich die Partei dieser Debatte ruhig noch intensiver annehmen soll. Denn es handelt sich hier um Fragen, die die Menschen beschäftigen. Und wir als SP können gute Vorschläge einbringen.

Auch die Asylthematik ist ein Teil der Migrationsdebatte, die die Bevölkerung sehr zu bewegen scheint. Wie kannst du die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen, gleichzeitig aber für faire Asylverfahren sorgen?
Mein Ziel ist es, in dieser sehr polarisierten Diskussion wieder einen minimalen Konsens herzustellen. Der Grundsatz muss sein, dass die Menschen, die Schutz brauchen, diesen in unserem Land bekommen. Ich habe sehr intensiv mit den Kantonen zusammengearbeitet, um die Asylverfahren zu beschleunigen, gleichzeitig aber den Rechtsschutz für Asylsuchende auszubauen. Ich denke, auf diesem Weg können wir letztlich auch für die Asylsuchenden mehr tun als bisher. Diejenigen, die bleiben, sollen schneller integriert werden. Und diejenigen, die zurückgehen müssen, sollen rasch Bescheid bekommen und nicht jahrelang warten müssen.

Bleiben wir beim Thema: Die SP hat an ihrer letzten Delegiertenversammlung eine Resolution verabschiedet, in welcher sie den Bundesrat auffordert, das Flüchtlingskontingent für syrische Flüchtlinge von 500 auf 2000 zu erhöhen. Wie viel Spielraum hast du, um eine solche Forderung umzusetzen?
Die Schweiz hat lange Zeit gar keine Flüchtlingsgruppen mehr aufgenommen. Ich habe diese humanitäre Tradition wieder eingeführt. Zuerst habe ich kleine Gruppen aufgenommen, das kann ich in eigener Kompetenz entscheiden. Dann habe ich dem Bundesrat zusätzlich beantragt, dass wir 500 Kontingentsflüchtlinge aufnehmen, und der
Bundesrat hat zugestimmt. Die Wiederaufnahme dieser humanitären Tradition ist ein wichtiger Schritt.

Folgen noch weitere Schritte?
Wir denken immer weiter, aber es ist zuerst einmal wichtig, dass wir diese Tradition wieder aufgenommen haben. Wir haben ein spezielles Integrationsprogramm für diese Flüchtlingsgruppen vorgesehen. Diese Menschen sind häufig traumatisiert, es hat überdurchschnittlich viele Frauen und Kinder darunter, und wir wollen mit speziellen Anstrengungen dafür sorgen, dass sie sich möglichst rasch bei uns zurechtfinden und dass sie in diesem Land ein eigenständiges Leben führen können. Da müssen wir viel investieren und wir werden das auch tun.

Letzte Änderung 21.01.2014

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