Interview, 6. Juli 2025: CH-Media; Stefan Bühler
Der SP-Bundesrat besucht Algerien und Spanien. In Algier geht’s um Migration, in Madrid um den Kampf gegen Femizide. Wir begleiten den Justizminister und fragen ihn: Warum ist in der Schweiz das Risiko für Frauen fünfmal höher als in Spanien, durch häusliche Gewalt ums Leben zu kommen?
Der Mond ist eine feine Sichel – fast wie auf dem algerischen Wappen. Unter den Palmen im Garten der Schweizer Botschaft in Algier erzählen eine Person aus der Kulturszene, eine zweite aus der Wirtschaft und eine dritte, die sich gesellschaftlich engagiert, über ihr Leben. Was sie lieben an ihrem unermesslich grossen Land. Die kulturelle Vielfalt, die Schönheit der Natur, die Menschen. Und sie schildern, mit vorsichtig gewählten Worten, wie sie trotz dieser Grösse dauernd an Grenzen stossen – Grenzen der Redefreiheit, der Rechtssicherheit, der Pressefreiheit.
Am Ende des Abends lässt sich erahnen, warum so viele junge Menschen aus Algerien wegwollen. Es ist nicht, weil die Not besonders gross wäre. Das Land verfügt über üppige Gas- und Ölvorkommen, an Geld fehlt es nicht. Der Staat sorgt für Obdach, zahlt die Ausbildung und die Gesundheitsversorgung, wenn auch all das auf bescheidenem Niveau.
Doch den grössten Teil seines Reichtums steckt er lieber ins Militär. Und er kontrolliert, überwacht und bestraft. Vater Staat lässt kaum Luft zum Atmen - es ist die Abwesenheit von Freiheit, die viele junge Menschen vom Weggehen träumen lässt.
Es ist Sonntagabend, der erste Tag einer dreitägigen Reise, die Bundesrat Beat Jans nach Algerien und Spanien führt. Begleitet wird er von Parlamentarierinnen, einem Regierungsrat, seinem Stab, einer Chefbeamtin und zwei Journalisten.
Noch bevor Sie sich mit Ministern treffen, sprechen Sie in der Schweizer Botschaft mit Algerierinnen und Algeriern aus der Zivilbevölkerung. Was versprechen Sie sich von diesem Austausch?
Beat Jans: Ich mache das, wenn möglich, auf all meinen Reisen. Spricht man mit Regierungen, zeichnen diese immer ein rosarotes Bild der Situation. Als Bundesrat würde ich sagen, keine Regierung widersteht dieser Versuchung. Kann man aber dieses Bild spiegeln mit Hintergrundinformationen aus der Zivilgesellschaft, wird es realistischer.
Was sind Ihre Schlüsse aus der Begegnung?
Mir ist das Wort Autozensur aufgefallen. Unter einer Regierung, die zwar viel anbietet, jedoch mit harter Hand regiert, muss man sich offensichtlich eine Überlebensstrategie zulegen – man hat stets eine Schere im Kopf.
Am Tag Ihrer Ankunft wurde in Algerien ein Journalist zu sieben Jahren Haft verurteilt, weil er im Umfeld eines Fussballklubs mit Bezug zu regimekritischen Personen recherchierte. Das Urteil ist absurd. Wie gehen Sie in Ihren Gesprächen mit Vertretern einer derart repressiven Regierung um?
Es ist schwierig und wird umso delikater, wenn wir dann auch noch von Zusammenarbeit sprechen. Aber wenn die Schweiz solche Länder aussen vorlässt, dann haben es engagierte Menschen, wie wir sie in der Botschaft getroffen haben, noch schwerer: Sie haben niemanden mehr, der hinschaut, der sich bei den Machthabenden für sie einsetzen, sie verteidigen kann.
Von der Botschaft in der Innenstadt geht’s spätabends ins staatliche Nobelhotel, das hoch über der Stadt thront. Der Ausblick auf den Hafen, die Lichter der Stadt und die Hügel dahinter, dazu der Ruf des Muezzins – all das ist atemberaubend. So atemberaubend wie die Fahrten im Konvoi am nächsten Tag quer durch die Stadt mit Blaulicht und Sirenen.
Bundesrat Jans trifft am Montag den Innenminister, den Justizminister, hohe Polizeibeamte und einen Staatssekretär im Aussenministerium. Das Prozedere der Begegnungen ist immer dasselbe: Eintreffen des Konvois. Sicherheitsbeamte springen aus den Wagen, geleiten den Bundesrat eine Treppe hinauf, wo schon eine Gruppe Männer wartet. Mittendrin der Minister. Händeschütteln vor einem mächtigen, gerne von Säulen flankierten Portal. Sodann der Fototermin in einem mehr oder weniger nobel ausstaffierten Sitzungsraum: Vorne, unter einem Bild von Präsident Abdelmadjid Tebboune, der väterlich streng auf die Szenerie herabschaut, sitzen der Schweizer Bundesrat und der algerische Minister. Davor, auf langen Sofas, die beiden Delegationen in absteigender Rangfolge. Es werden Wasser, Kaffee und aromatischer, stark gezuckerter Tee gereicht.
Jans’ Gesprächspartner sind ausschliesslich Männer. In deren Begleitgruppen finden sich bloss vereinzelt Frauen, eine Übersetzerin etwa oder eine Presseverantwortliche.
Die Schweizer Delegation ist vielfältiger. Mitte-Nationalrätin Maya Bally aus dem Aargau nimmt vorne auf dem Sofa Platz, neben Eva Wildi-Cortés, der Chefin des Bundesamts für Polizei Fedpol. Hinzu kommt der Waadtländer Staatsrat Vassilis Venizelos als Vertreter der Kantone. Jans ist es ein Anliegen, mit seiner Delegation die Vielfalt der Schweiz sowie den Föderalismus abzubilden – und so die Bedeutung von Frauen in hohen Ämtern deutlich zu machen.
Fedpol-Chefin Wildi-Cortés ist es denn auch, die eine Absichtserklärung zu vertiefter Zusammenarbeit im Polizeibereich unterzeichnet. Ein entsprechendes Dokument für einen vertieften Migrationsdialog signiert später der Vizedirektor des Staatssekretariats für Migration, Hendrick Krauskopf. «Algerien ist ein Herkunfts-, Transit- und Zielland irregulärer Migration», heisst es im Communiqué des Justiz- und Polizeidepartements zu den beiden Treffen. Bundesrat Jans habe «die Herausforderungen gewürdigt», die Algerien zu bewältigen habe, und dabei auch «die Situation in der Schweiz erörtert».
Algerien hat wegen junger, krimineller Asylsuchender ein schlechtes Image in der Schweiz. Was wollen Sie mit Ihrer Reise erreichen?
Beat Jans: Die Minderheit von straffälligen Personen aus Nordafrika ist eine grosse Herausforderung für unser Asylsystem. Ich nehme die Probleme, die sich im Umfeld von Asylzentren ergeben, sowie die Vorstösse aus dem Parlament sehr ernst: Ich will schnelle Verfahren und eine schnelle Rückkehr solcher Personen. Das ist für die Akzeptanz unserer Asylpolitik wichtig.
Aber ist es überhaupt vertretbar, Menschen in ein Land wie Algerien auszuschaffen?
Es erhalten alle ein korrektes, rechtsstaatliches Verfahren. Mir ist nicht bekannt, dass Rückkehrer nach Algerien in Probleme gerieten. Sie erhalten sogar eine Starthilfe von uns. Hinzu kommt, dass rund zwei Drittel der algerischen Asylsuchenden medikamentensüchtig sind, schon bei ihrer Ausreise aus Algerien. Diesen Menschen können wir bei uns nicht helfen, sie sind in ihrer Heimat besser aufgehoben. Viele von ihnen kehren übrigens freiwillig zurück.
Welche Verbesserungen bringen denn nun die neuen Vereinbarungen?
Die Rückkehr nach Algerien läuft jetzt schon gut, wir haben zuletzt grosse Fortschritte erzielt. Für uns ist wichtig, dass es noch schneller geht, dass die algerischen Behörden ihre Bürgerinnen und Bürger noch rascher identifizieren und einreisen lassen. Wir bieten ihnen an, sie im technischen Bereich zu unterstützen, sodass Algerien auch profitieren kann.
Wir führen dieses Gespräch auf dem Flug von Algier nach Madrid. Hand aufs Herz: Für Sie als Sozialdemokrat war das Feilschen um Asylrückkehrer die Pflichtübung. In Madrid wollen Sie das erfolgreiche spanische Modell im Kampf gegen Gewalt an Frauen kennenlernen – das ist nun eine Herzensangelegenheit?
Dieses Bild gefällt mir nicht. Ich bin überzeugt, dass die Zusammenarbeit mit Algerien bezüglich Menschenrechte und den Schutz jener Personen, die zurückgeschickt werden, wichtig ist. In Spanien geht es um Opferschutz, dass wir lernen können, wie wir die Zahl der Femizide reduzieren können. Die Anzahl getöteter Frauen, innerhalb und ausserhalb von Beziehungen, ist in der Schweiz inakzeptabel hoch. Kein Gewaltverbrechen fordert so viele Todesopfer wie die Gewalt gegen Frauen. Wir müssen alles daransetzen, solche Delikte in Zukunft zu verhindern.
Nach der Landung, noch am Montagabend, stossen die Nationalrätinnen Tamara Funiciello und Jessica Jaccoud (beide SP) zur Delegation. Später trifft sich die Gruppe mit Vertreterinnen der staatlichen Behörden, die sich im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt engagieren. Das Abendessen findet in einem traditionellen, spanischen Restaurant statt. An der Wand hängen Dutzende Bilder von Toreros, die Stiere reizen oder gerade mit dem Degen abstechen. Bloss vier Gemälde zeigen Frauen: Eine trinkt nackt Wein, die andern tanzen Flamenco. Das Ambiente ist ein Abbild des alten, spanischen Machismo.
Umso eindrücklicher ist, was die Frauen erzählen. Wie in Spanien schon vor 20 Jahren das Gesetz zum integralen Schutz gegen geschlechtsspezifische Gewalt geschaffen wurde. Ausgelöst auch durch den brutalen Mord an Ana Orantes. Die 60-Jährige hatte 1997 im Fernsehen geschildert, wie sie von ihrem Mann jahrelang verprügelt wurde. Zwei Wochen später lauerte der Mann ihr auf, übergoss sie mit Benzin und zündete sie an. Orantes starb. Der Fall sorgte landesweit für Entsetzen und Proteste.
Seither hat Spanien den Kampf gegen Femizide stetig ausgebaut. 2017 haben alle Parteien im Parlament einen Pakt verabschiedet und 1 Milliarde Euro für einen Zeitraum von fünf Jahren bewilligt, um die Zahl der Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt weiter zu reduzieren. Gerade ist der Pakt erneuert worden. Im Februar 2025 haben wiederum alle Parteien 1,5 Milliarden für die nächsten fünf Jahre bewilligt, inklusive der Konservativen. Bloss die rechtspopulistische Vox sagte Nein.
Entstanden ist ein ausgeklügeltes System. Dazu gehören Prävention an Schulen und Aufklärungskampagnen, eine Notfallnummer, spezialisierte Gerichtsabteilungen und Strafverfolgungsbehörden. Zu den wichtigsten Elementen zählt ein elektronisches Monitoring, das Alarm schlägt, wenn ein Gefährder die gerichtlich verfügte Distanz zur bedrohten Frau unterschreitet. «Cometa» heisst es.
Bundesrat Jans lässt es sich am Dienstag bei einem Besuch in der Zentrale vorführen, live. Auf einem Bildschirm ist ein Stadtplan zu sehen, dazu zwei Punkte. Grün die Frau. Rot der Aggressor. Die beiden Punkte kommen sich näher. Die Operateurin greift zum Telefon, ruft zuerst die Frau an, dann die Polizei und schliesslich den Täter. Sie macht sie auf die Annäherung aufmerksam. Ob die Polizei einschreitet, entscheidet diese selbst.
Das spanische System kann nicht alle Femizide verhindern, aber es wirkt. Das zeigen die Zahlen.
In Spanien sind dieses Jahr bisher 22 Frauen im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt getötet worden. In der Schweiz fast gleich viele. In Spanien leben aber fünfmal mehr Menschen. Warum ist in der Schweiz das Risiko für Frauen fünfmal höher als in Spanien, durch häusliche Gewalt ums Leben zu kommen?
Beat Jans: In Spanien hat man die Mittel gefunden, Frauen besser zu schützen. Ich sehe keinen anderen Grund. Mir zeigt das, dass auch wir in der Schweiz mit guten Gesetzen und technologischen Mitteln etwas bewirken können. Wenn ich sehe, wie stark die Zahlen bei uns ansteigen, müssen wir jetzt unbedingt vorwärtsmachen.
Spanien hat die ersten Gesetze schon vor 20 Jahren erlassen. Wie erklären Sie diesen Rückstand?
Spanien ist auch anderen Ländern weit voraus. Ich glaube auch nicht, dass unser föderalistisches System hier bremsend wirkt. Ich bin jedenfalls entschlossen, jetzt zusammen mit den Kantonen Lösungen zu finden. Ich konnte in Spanien einiges lernen.
Was genau?
Man muss das Problem global erfassen, auch statistisch. Der Begriff der häuslichen Gewalt hat teilweise den Eindruck erweckt, es handle sich um ein privates Problem. Das ist es nicht, im Gegenteil: Geschlechterbedingte Gewalt, die Femizide, sind derzeit eines der grössten Risiken, wenn es um den Schutz unserer Bevölkerung vor Verbrechen geht.
Wie wollen Sie vorgehen?
Wir müssen zuerst jene Massnahmen umsetzen, die rasch wirken. Mit der für den Herbst geplanten Revision des Opferhilfegesetzes sollen betroffene Personen sofort Zugang erhalten zu Fachpersonen in Spitälern, um Beweise zu sichern. Das erleichtert ihnen, sich zu wehren und, wenn sie das wollen, gerichtlich gegen die Täter vorzugehen. Darüber hinaus braucht es ein elektronisches Monitoring und ein Alarmsystem mit Fussfesseln für Täter wie in Madrid. Derzeit laufen in mehreren Kantonen Versuche dazu.
Spanien hat für den Aufbau dieses Systems allerdings Milliardenbeträge eingesetzt.
Ich bin überzeugt, dass die Kantone bereit sind, Mittel zur Verfügung zu stellen. Auch der Bund will die Sicherheit stärken, nicht nur die Armee, um unsere Bevölkerung zu schützen. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die Folgen von häuslicher Gewalt auch Kosten verursachen, bei der Versorgung der Opfer oder wenn diese arbeitsunfähig werden.
Bundesrat Jans gibt auch dieses Interview im Flugzeug. Diesmal auf dem Weg von Madrid nach Bern am Dienstagabend. Als durch die Fenster schon die Alpen in Sicht kommen, wird das Gespräch persönlich. Und die politischen Fragen werden plötzlich sehr greifbar, konkret.
Mit den Massnahmen, die Sie schildern, bekämpft man die Folgen des Problems, man bekämpft damit aber nicht die von manchen Männern ausgehende Gewalt.
Beat Jans: Ja, deshalb müssen wir das Problem gesamtgesellschaftlich angehen. Gerade die Männer stehen sehr stark in der Verantwortung. Alle Männer, die merken, dass ein Kollege übergriffig wird, vielleicht sogar seine Partnerin schlägt, müssen handeln, einschreiten und Hilfe holen. Wer schweigt, trägt zum Problem bei.
Ich bin, wie Sie, Vater von zwei Töchtern. Ihre beiden sind 17 und 19 Jahre alt. Wie sehr hat Sie die Thematik der Gewalt gegen Frauen in der Erziehung beschäftigt?
Die Diskussionen mit meinen Töchtern haben mich geprägt. Auch meine Frau hat stets gesagt, der erste Schritt zur Freiheit der Frauen ist die wirtschaftliche, materielle Unabhängigkeit – das war ein roter Faden in unserer Erziehung. Und wir haben ihnen mitgegeben, dass sie sich wehren, wenn sie belästigt werden. Dass sie laut werden im Tram, wenn ein Typ sie betatscht.
Doch so liegt der Handlungsdruck wieder bei den Frauen.
Schon – aber das mussten wir unseren Töchtern sagen. Sich nicht wehren, geht ja nicht. Doch es ist in der Tat höchste Zeit: Wir Männer müssen endlich aufhören zu denken, häusliche Gewalt sei ein Frauenproblem!
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