TV-Statement

Volksabstimmung vom 9. Februar 2014

TV-Statement von Bundesrätin Simonetta Sommaruga

 

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

ich höre es von vielen, die mit mir das Gespräch suchen: Die Bevölkerung in unserem Land ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Das erzeugt ein Unbehagen.

Vergessen wir aber nicht: Es war schon früher so. In den 60er Jahren war die Zuwanderung noch grösser als heute. Und sie wurde mit Kontingenten gesteuert, wie sie die Initianten jetzt wieder einführen wollen.

Auch damals wurde eine Überfremdungsinitiative eingereicht, die Schwarzenbach-Initiative. Sie war heftig umstritten und wurde 1970 abgelehnt.

Wuchs die Bevölkerung nachher einfach weiter an? Nein, die Zahl begann ab Mitte der 70er Jahre sogar zu sinken. Und warum? Weil die Konjunktur wegen der Erdölkrise einbrach und die Wirtschaft weniger Beschäftigte brauchte.
Jetzt stehen wir wieder vor einer solchen Abstimmung. Die Initiative der SVP will einen Systemwechsel: Sie will die Personenfreizügigkeit und damit den bilateralen Weg aufs Spiel setzen, und sie will zurück zu staatlich verordneten Kontingenten.

Was heisst das? Die Behörden würden im Voraus bestimmen, wie viele Ausländer die Bauern im nächsten Jahr anstellen dürften – egal, wie gut oder wie schlecht dann die Ernte ausfällt. Und die Behörden würden bestimmen, wie viele Ausländer die KMU anstellen dürfen – egal, wie sich die Auftragslage dann entwickelt.

Wollen wir wirklich zurück zu dieser Art von Steuerung? Die Annahme der SVP-Initiative würde nämlich einen eigentlichen Bürokratieschub auslösen. Ein Unternehmer müsste für jeden einzelnen Ausländer, für jede Ausländerin, die er anstellen möchte, nachweisen, dass er mit Inseraten einen Schweizer gesucht – und keinen gefunden hat. Das bedeutet zusätzlichen Aufwand, zusätzliche Kosten – und trotzdem keine Planungssicherheit.

Auch deshalb sind sich sämtliche Wirtschaftsverbände, aber auch alle 26 Kantone einig: diese Initiative muss abgelehnt werden. Das empfehlen nicht nur der Arbeitgeberverband, sondern auch der Gewerbeverband und der Bauernverband.
Einzelne kantonale Bauernverbände haben sich für die Initiative ausgesprochen, weil sie den Kulturlandverlust fürchten. Ich teile diese Sorge, und ich bin ganz entschieden der Meinung, dass wir unser Kulturland besser als bisher schützen müssen. Und das können wir: Aber nicht mit einem Ja zur Initiative, sondern mit unserer kantonalen Raumplanung. Einige Kantone haben bereits gezeigt, wie man das macht.

Genau das ist der Weg, der mir vorschwebt: Wir können weiter wachsen, aber auf kluge Weise. Wir müssen so wachsen, dass wir dabei unsere Lebensqualität erhalten.

Lebensqualität bedeutet für mich Wohlstand – aber nicht nur. Zu ihr gehören auch gute und sichere Arbeitsbedingungen. Deshalb sind die flankierenden Massnahmen so wichtig. Dank ihnen können wir Lohndumping verhindern. Zur Lebensqualität gehört aber auch, dass wir bezahlbare Wohnungen haben. Deshalb müssen preisgünstige Wohnungen gefördert werden. Und schliesslich sind auch gut ausgebaute Verkehrsverbindungen Teil unserer Lebensqualität.
Über all dies steht in der Initiative der SVP kein einziges Wort.

Eine zentrale Frage bleibt: Wie würde die EU auf ein Ja zur SVP-Initiative reagieren? Das ist offen, der Ausgang von allfälligen Verhandlungen mit der EU wäre ungewiss.

Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger: Ich sage es mit aller Deutlichkeit: Diese Abstimmung darf nicht zu einer Symbolabstimmung verkommen wie damals bei der Minarett-Initiative. Wir fällen am 9. Februar einen Grundsatzentscheid. Halten wir an der Personenfreizügigkeit und dem bilateralen Weg fest? Oder nehmen wir eine längere Phase der Unsicherheit in Kauf von der wir nicht wissen, wohin sie unser Land führt.

Ich möchte, dass unser Land seine Herausforderungen anpackt und die Probleme dort löst, wo sie entstehen. Die Initiative der SVP ist dazu nicht geeignet. Sie schafft mehr Bürokratie und vor allem grosse Unsicherheit.

Ich empfehle Ihnen im Namen von Bundesrat und Parlament, die Masseneinwanderungs-Initiative abzulehnen.

Und ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Letzte Änderung 20.01.2014

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