Die Durchsetzungsinitiative und die Demokratie
Unsere Demokratie funktioniert deshalb so gut, weil viele Akteure eng zusammenarbeiten. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger und die Kantone entscheiden über Verfassungsinitiativen; das Parlament setzt aufgrund entsprechender Vorschläge des Bundesrats angenommene Initiativen im Gesetz um und sorgt dafür, dass allfällige Widersprüche zwischen neuen und bisherigen Verfassungsartikeln möglichst aufgelöst werden. Kantone, Parteien und weitere Interessierte können sich im Rahmen der Vernehmlassung zum Gesetzesentwurf äussern. Wer am Ende mit dem Gesetz nicht einverstanden ist, kann das Referendum ergreifen. Diese fein austarierten Mechanismen stellen sicher, dass ein Gesetz breit abgestützt ist und in der Praxis tatsächlich auch angewendet und vollzogen werden kann.
Die Initianten der Durchsetzungsinitiative haben aber einen anderen Weg gewählt. Sie haben kein Referendum ergriffen gegen das von ihnen kritisierte Gesetz zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative. Stattdessen haben sie – noch bevor sich das Parlament mit der Ausschaffungsinitiative überhaupt beschäftigt hat –, eine neue Initiative eingereicht und durchbrechen den bewährten Gesetzgebungsprozess. Aus diesen Gründen bricht die Durchsetzungsinitiative mit Grundregeln der Demokratie. Denn sie bringt die Gewaltenteilung aus dem Gleichgewicht: Das Parlament wird ausgeschaltet, und die Bevölkerung wird zum Parlament.
Nein. Die Ausschaffungsinitiative verpflichtete den Gesetzgeber, die Umsetzung innert einer Frist von 5 Jahren abzuschliessen. Diese Frist wurde eingehalten. Das Parlament hat seine Aufgabe erfüllt. Die Ausschaffungsinitiative ist umgesetzt, die Gesetze sind verschärft. Sie können nach der Abstimmung rasch in Kraft treten.
Der Bundesrat hatte früh einen Gesetzesentwurf vorgelegt und in die Vernehmlassung geschickt. Doch bereits kurz nach der Vernehmlassung und noch bevor das Parlament die Gesetzesvorlage überhaupt beraten konnte, wurde bereits die Durchsetzungsinitiative eingereicht. Der Gesetzgeber wird damit faktisch umgangen, und dieses Vorgehen passt nicht zu den Grundregeln unserer Demokratie.
Durchsetzungsinitiative und Umsetzung der Ausschaffungsinitiative
Die Durchsetzungsinitiative sieht einen strikten Automatismus vor: Bei bestimmten Straftaten wird jede ausländische Person automatisch aus der Schweiz ausgewiesen, ohne dass eine Strafbehörde die Umstände des Einzelfalls prüfen kann.
Auch die Gesetze zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative sehen bei schweren Delikten eine obligatorische Landesverweisung vor; dank einer Härtefallregelung kann ein Gericht in Ausnahmefällen aber davon absehen.
Die Einzelheiten sind in zwei zusätzlichen Dokumenten aufgeführt:
Bei der Durchsetzungsinitiative sind die Straftaten, die zu einer Landesverweisung führen sollen, in zwei Deliktskatalogen aufgelistet. Im ersten Deliktskatalog sind überwiegend schwere Straftaten aufgelistet. Nach diesen Straftaten erhält eine ausländische Person in jedem Fall zwingend auch eine Landesverweisung. Im zweiten Deliktskatalog sind auch leichtere Straftaten aufgeführt (z.B. Widerhandlungen gegen das Ausländergesetz) und sogar Delikte, die nicht von Amtes wegen verfolgt werden (z.B. einfache Körperverletzung, «Einbruch» definiert als Sachbeschädigung mit Hausfriedensbruch). Bei diesen Delikten kommt es erst dann zu einer Ausschaffung, wenn der Täter vorbestraft ist, d.h. innert der letzten 10 Jahre zu irgendeiner Freiheits- oder Geldstrafe verurteilt wurde.
Die Gesetze zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative beschränken sich auf einen einzigen Deliktskatalog. Zu einer Landesverweisung führen nicht nur gewisse, sondern systematisch alle Verbrechen, bei denen Menschen getötet, schwer verletzt oder gefährdet werden, sowie alle Sexualverbrechen und alle schweren Verbrechen gegen das Vermögen. Nur vereinzelte leichtere Straftaten sind ebenfalls erfasst. Eine Vorstrafe ist nicht vorausgesetzt.
Der Bundesrat wartet das Ergebnis der Volksabstimmung vom 28. Februar 2016 ab, bevor er über die Inkraftsetzung der neuen Gesetzesbestimmungen zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative entscheidet. Er wird dabei dem von den Kantonen geltend gemachten Zeitbedarf Rechnung tragen, damit diese Ausführungserlasse und Infrastrukturen anpassen können. Dieser Entscheid erfolgte vor dem Hintergrund, dass mit einer Annahme der Durchsetzungsinitiative Volk und Stände implizit auch die vom Parlament beschlossenen Gesetze zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative ablehnen würden.
Ja, der Wortlaut der Durchsetzungsinitiative ist diesbezüglich klar. Erfasst werden "kriminelle Ausländerinnen und Ausländer". Darunter fallen alle Personen ohne Schweizer Bürgerrecht – also auch sogenannte Secondos. Für sie sieht die Durchsetzungsinitiative keine Ausnahme vor.
Im Unterschied dazu enthalten die vom Parlament beschlossenen Gesetze zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative eine spezielle Regelung für Secondos: Das Gesetz hält nämlich fest, dass der besonderen Situation von Ausländerinnen und Ausländern Rechnung zu tragen ist, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind. Bei ihnen kann das Gericht ausnahmsweise von einer Landesverweisung absehen, wenn diese für die betreffende Person einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung nicht überwiegen (Härtefallklausel).
Nein. Die Voraussetzungen für eine Anwendung der Härtefallklausel sind sehr eng formuliert. Die Klausel soll nur ausnahmsweise zur Anwendung kommen. Der schwere persönliche Härtefall alleine reicht noch nicht, dass die Gerichte im konkreten Fall auf eine Landesverweisung verzichten dürften. Die Härtefallklausel verlangt nämlich weiter, dass zusätzlich die öffentlichen Interessen an einer Landesverweisung nicht überwiegen dürfen. Im Ergebnis kann die Härtefallklausel also in aller Regel nur dann zum Zug kommen, wenn der betreffende Ausländer – ob Secondo oder nicht – ein leichtes Delikt begangen hat. Bei schweren Delikten kommt es zu einer Landesverweisung, denn: Wenn das öffentliche Interesse überwiegt, muss ein Straftäter aus der Schweiz gewiesen werden.
Für den Bundesrat ist klar: Ausländische Personen, die schwere Straftaten begangen haben, müssen die Schweiz verlassen. Dies aber nicht um jeden Preis: Es darf nicht vergessen werden, dass unsere Verfassung fundamentale rechtsstaatliche Garantien enthält, die für Schweizer Bürger und ausländische Personen gelten. Diese Grundsätze können dank der Härtefallklausel besser eingehalten werden. Das gilt auch für die internationalen Verpflichtungen der Schweiz: Dank der Härtefallklausel lassen sich die Bestimmungen über die Ausschaffung krimineller Ausländerinnen und Ausländer besser mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU oder auch der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbaren.
Anzahl Betroffener und Fragen der Sicherheit
Im Jahr 2014 wären laut dem Bundesamt für Statistik von der Durchsetzungsinitiative 10 210 Personen betroffen gewesen, von den neuen Gesetzen zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative 3 863. Allerdings lässt sich nicht berechnen, bei wie vielen Personen die angeordnete Landesverweisung effektiv vollzogen werden kann (Non-Refoulement-Prinzip oder technische Hindernisse).
Zudem sehen sowohl die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative als auch die Durchsetzungsinitiative die Möglichkeit vor, in gewissen Fällen von einer Ausschaffung abzusehen. Die Gesetze zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative enthalten eine Härtefallbestimmung. Diese erlaubt es den Gerichten, ausnahmsweise auf eine Landesverweisung zu verzichten wenn diese einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und die öffentlichen Interessen nicht überwiegen. Darüber hinaus kann das Gericht auch in seltenen Fällen von Notwehr- und Notstandsituationen von einer Landesverweisung absehen. Bei der Durchsetzungsinitiative kann nur in seltenen Fällen von Notwehr- und Notstandssituationen von einer Landesverweisung abgesehen werden.
Bei wie vielen Fällen die Strafbehörden diese Ausnahmen anwenden, lässt sich nicht berechnen.
Sicher ist aber: Von der Durchsetzungsinitiative sind potentiell deutlich mehr Personen betroffen als von den neuen Gesetzen zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative. Denn die Durchsetzungsinitiative erfasst auch leichtere Massendelikte.
Bei den schweren Delikten gibt es kaum Unterschiede, die Deliktkataloge unterscheiden sich nur in wenigen Delikten. Der grosse und entscheidende Unterschied liegt darin, dass die Durchsetzungsinitiative auch leichtere Massendelikte erfasst, die neuen Gesetze nicht: Rund 7 700 Personen (Basis 2014) wären gemäss Bundesamt für Statistik nur schon wegen leichteren Delikten von der Anordnung einer Landesverweisung betroffen gewesen. Das sind rund drei Viertel.
Dazu gehören etwa einfache Verstösse gegen das Ausländergesetz (z.B. Verletzung der Einreisevorschriften, rechtswidriger Aufenthalt oder Ausübung einer Tätigkeit ohne Bewilligung; Art. 115 Abs. 1 AuG), leichtere Drogendelikte (Art. 19 Abs. 1 BetmG) oder "Einbruch" definiert als Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung (Art. 139 in Verbindung mit Art. 144 StGB). Bei diesen Delikten wird eine Landesverweisung automatisch angeordnet, wenn jemand schon einmal wegen irgendeines Delikts eine Freiheits- oder Geldstrafe erhalten hat.
Die Durchsetzungsinitiative zielt also nicht nur auf schwere Kriminalität ab. Zudem muss ein guter Teil der Ausländerinnen und Ausländer, die sie erfasst, die Schweiz auch heute schon verlassen, weil sie sich rechtswidrig in der Schweiz aufhalten.
Gerade bei den leichten Delikten wäre eine Prüfung des Einzelfalls besonders wichtig, um die Verhältnismässigkeit zu wahren. Die Durchsetzungsinitiative lässt das aber nicht zu.
Der Anteil ausländischer Personen in den Gefängnissen ist hoch. Er belief sich 2014 auf 68 Prozent. Ausländerkriminalität muss auf verschiedenen Ebenen bekämpft werden. Einzig mit Landesverweisungen lässt sich die Ausländerkriminalität nicht beseitigen. Wichtig ist auch die Prävention. So ist beispielsweise mehr Integration zentral, um Kriminalität vorzubeugen, und Asylsuchende sollen möglichst eine Tagesstruktur erhalten und an Arbeits- und Beschäftigungsprogrammen teilnehmen können.
Im Bereich des Kriminaltourismus hat der Bundesrat in den letzten Jahren die grenzüberschreitende Polizeikooperation sukzessive ausgebaut. Überdies stellt Schengen den Behörden für die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität wichtige Instrumente zur Verfügung (z.B. das Schengener Informationssystem, SIS).
Die Kosten für den Strafvollzug bei kriminellen Ausländerinnen und Ausländern fallen nicht einfach weg. Auch wenn die Durchsetzungsinitiative angenommen wird, müssen ausländische Straftäter, die in der Schweiz verurteilt werden und von der Durchsetzungsinitiative erfasst sind, zunächst ihre Strafe verbüssen. Erst dann werden sie aus der Schweiz verwiesen. Das steht so im Initiativtext (Art.197 Abs. 1 Ziff. III/1 BV)
Es ist offen, ob im Laufe der Zeit der Anteil der ausländischen Gefangenen tatsächlich sinkt. Das hängt von der weiteren Entwicklung der Kriminalität ab.
Zudem sind den Ausgaben für den Strafvollzug jene Kosten gegenüberzustellen, welche mit dem Vollzug der zahlreichen zusätzlichen Landesverweisungen verbunden sind.
Schliesslich ist davon auszugehen, dass mit der Durchsetzungsinitiative viel mehr Arbeit auf die Gerichte und die Staatsanwaltschaften zukommt, weil sich die Betroffenen auch bei geringen Strafen mit allen Mitteln gegen die Landesverweisung wehren und die Urteile vermehrt vor höhere Gerichtsinstanzen weiterziehen dürften. Dies kann zu enormen Mehrkosten führen.
Es braucht die Durchsetzungsinitiative nicht, um die Sicherheit in der Schweiz zu erhöhen. Denn bei schweren Delikten wie Tötung, Vergewaltigung oder Raub sehen auch schon die neuen Gesetze zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative vor, dass ein krimineller Ausländer das Land verlassen muss. Diese Gesetze hat das Parlament bereits beschlossen. Die Durchsetzungsinitiative hingegen erfasst vor allem auch Straftäter, die ein leichtes Massendelikt begangen haben – also zum Beispiel einen Verstoss gegen das Ausländerrecht (Verletzung der Einreisevorschriften, Arbeiten ohne Bewilligung). Solche Straftaten stellen keine besondere Gefahr für unsere Sicherheit dar.
Zudem bietet die Durchsetzungsinitiative kaum eine wirksame Handhabe gegen Kriminaltouristen, die bloss für Einbrüche in die Schweiz einreisen und das Land sofort wieder verlassen. Kriminaltouristen wollen sich in der Regel gar nicht in der Schweiz niederlassen, so dass sie sich kaum von der Androhung einer Landesverweisung abschrecken lassen. Vielfach gehen sie der Polizei gar nicht ins Netz, so dass auch keine Landesverweisung über sie ausgesprochen werden kann.
Das Prinzip der Verhältnismässigkeit
Die Durchsetzungsinitiative kann im Einzelfall selbst bei ausländischen Personen, die mehr als einmal straffällig werden, zu absolut unverhältnismässigen Entscheiden führen. Denn es ist möglich, dass jemand zum Beispiel wegen eines leichteren Delikts im zweiten Deliktskatalog der Durchsetzungsinitiative verurteilt wird und nun zwingend die Schweiz verlassen muss, weil er bereits früher einmal zum Beispiel eine bedingte Geldstrafe für ein anderes leichtes Delikt erhalten hat. In Frage für eine solche Vorstrafe kommen beispielsweise auch Verstösse gegen das Strassenverkehrsgesetz, sofern diese zum Beispiel mit einer bedingten Geldstrafe sanktioniert wurden.
Zudem darf der Richter selbst in Fällen, wo laut seiner Einschätzung keine schwere Tat vorliegt, die Umstände des Einzelfalles nicht berücksichtigen. Damit kann es zu stossenden Situationen kommen, wenn die zwingende Landesverweisung schlicht unverhältnismässig ist.
Damit geht die Durchsetzungsinitiative unmenschlich mit den Ausländerinnen und Ausländern um. Sie behandelt nämlich Ausländerinnen und Ausländer wie Menschen zweiter Klasse. Bei ihnen sollen nicht mehr die Grundsätze gelten, die für alle Menschen in diesem Land geschaffen wurden. Dazu gehört, dass ein Gericht jeden Einzelfall prüft.
Zwei Beispiele verdeutlichen einen Verstoss gegen Grundsätze wie das Verhältnismässigkeitsprinzip:
- Eine junge und bestens integrierte "Seconda-Frau" klettert über einen Zaun einer Fabrik und sprayt ein "Graffiti" auf die Wand des Fabrikgebäudes. Der Richter verurteilt sie wegen Hausfriedensbruchs und Sachbeschädigung zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen. Weil die junge Frau ein paar Jahre zuvor ohne Lernfahrausweis mit dem Auto unterwegs war und hierfür zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt wurde, muss das Gericht sie jetzt zwingend – und ohne die Umstände seines Falles anschauen zu dürfen – für mindestens fünf Jahre des Landes verweisen.
- Ein seit Jahrzehnten in der Schweiz wohnhafter und arbeitstätiger ausländischer Familienvater gerät – leicht angetrunken – in einen Streit mit einem Kollegen und verpasst diesem einen Schlag ins Gesicht. Der Kollege stellt einen Strafantrag und die Staatsanwaltschaft verurteilt den Familienvater wegen einfacher Körperverletzung zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen. Der Familienvater hatte aber neun Jahre zuvor, als er sich beleidigt fühlte, einen Arbeitskollegen beschimpft und wurde damals zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt. Deshalb muss die Staatsanwaltschaft den Familienvater nun zwingend für mindestens fünf Jahre aus der Schweiz ausweisen – und damit von seiner Familie, seinem sozialen Umfeld und seiner Arbeitsstelle trennen.
Konflikte mit Europa
Der Automatismus der Durchsetzungsinitiative ist mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen (FZA) nicht vereinbar. Zwar lässt dieses Abkommen auch zu, einen Angehörigen eines EU- oder EFTA-Staates aus der Schweiz auszuweisen. Voraussetzung ist aber eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung. Um das feststellen zu können, müssen die Umstände des Einzelfalls geprüft werden können. Die Durchsetzungsinitiative lässt das nicht zu.
Es ist davon auszugehen, dass eine Annahme der Durchsetzungsinitiative zusätzliche Unsicherheiten in die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU bringt und die laufenden Gespräche zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative belasten könnte. Ob es zu einer Kündigung des FZA kommen könnte, lässt sich heute nicht voraussehen. Juristisch wäre die Ausgangslage bei einer Kündigung aber klar: eine Kündigung des FZA würde aufgrund der Guillotine-Klausel auch zu einem Ende der Bilateralen I führen.
Die Schweiz kann wie die EU und die EU-Mitgliedstaaten jederzeit eine Änderung des FZA vorschlagen. Eine Anpassung könnte aber nur in Kraft treten, wenn alle Beteiligten des Abkommens einverstanden wären, also die EU und die einzelnen Mitgliedstaaten.
Eine Annahme der Durchsetzungsinitiative würde die Rechtssicherheit gefährden, und zwar aus verschiedenen Gründen. Erstens: Macht das Modell der Durchsetzungsinitiative Schule, muss bei weiteren Initiativen, die Bundesrat und Parlament nicht genau nach den Vorstellungen der Initianten umsetzen, mit neuen Durchsetzungsinitiativen gerechnet werden. Zweitens: Es ist davon auszugehen, dass eine Annahme der Durchsetzungsinitiative zusätzliche Unsicherheiten in die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU bringt und die laufenden Gespräche zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative belasten könnte.
Beides führt zu Rechtsunsicherheit. Rechtsstaatlichkeit und Stabilität sind aber absolut zentral für unsere Wirtschaft. Sie ziehen Investitionen an und stärken den Wirtschaftsstandort Schweiz.
Konflikte mit Menschenrechtsgarantien
Der Automatismus tangiert die EMRK sowie den UNO-Pakt II, weil er keine Beurteilung mehr zulässt, ob eine Landesverweisung für die ausländische Person einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens darstellt. Kriterien wie die Schwere der Straftat oder die familiäre Situation des Betroffenen können nicht mehr berücksichtigt werden.
Zudem könnte nicht mehr sichergestellt werden, dass die Rechte der Kinder eingehalten werden, welche die Kinderrechtskonvention statuiert. Die Kinderrechtskonvention hält nämlich als Grundsatz fest, dass bei allen behördlichen Massnahmen das Wohl des Kindes vorrangig zu beachten ist (Art. 3). Wenn ein Elternteil aus der Schweiz gewiesen wird, sind auch regelmässige persönliche Beziehungen und Kontakte – je nach Land – nicht möglich.
Nach Annahme der Durchsetzungsinitiative müsste die Schweiz mit einer zunehmenden Zahl von Verurteilungen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) rechnen. Damit stünde die Schweiz unter internationalem Druck, und die Glaubwürdigkeit ihrer Menschenrechtspolitik würde geschwächt.
Theoretisch könnte der Europarat die Schweiz aus dem Europarat ausschliessen. Ein solcher Ausschluss, der die Wirkung einer Kündigung hätte (Art. 58 Abs. 3 EMRK), ist bisher aber noch nie erfolgt. Eine Kündigung aus eigenem Antrieb ist für den Bundesrat keine Option. Die EMRK ist ein zentraler Baustein der europäischen Wertegemeinschaft und hat den Grundrechtekatalog der Bundesverfassung von 1999 massgeblich geprägt.
Weitere Fragen
Die Bundesverfassung verpflichtet das Parlament, eine Initiative oder Teile davon für ungültig zu erklären, wenn sie die Einheit der Form oder der Materie verletzt oder gegen zwingende Bestimmungen des Völkerrechts verstösst (Art. 139 Abs. 3 BV).
Die Durchsetzungsinitiative enthielt eine Bestimmung, die abschliessend definiert hat, was unter zwingendem Völkerrecht zu verstehen ist. Diese Definition war sehr eng und entsprach damit weder der Praxis der Bundesbehörden noch der Staatenpraxis. Die Schweiz kann zwingendes Völkerrecht nicht einfach umdefinieren. Sie kann in ihrer Verfassung so wenig abschliessend definieren, was zum zwingenden Völkerrecht gehört, wie ein Kanton in seiner Verfassung bestimmen darf, was Bundesrecht ist. Hätte das Parlament die verfassungsrechtliche Pflicht zur Teilungültigerklärung nicht angewendet, hätte es sich über den Willen von Volk und Ständen hinweggesetzt, die diese Regel bestimmt haben.
Letzte Änderung 19.05.2020