Mit der Durchsetzungsinitiative sollen Ausländer, die bestimmte Delikte begangen haben, automatisch aus der Schweiz gewiesen werden. Auch die neuen Gesetze, mit denen die Ausschaffungsinitiative von 2010 bereits umgesetzt wurde, sehen bei schweren Delikten eine obligatorische Landesverweisung vor. Im Folgenden wird anhand einiger Fallbespiele aufgezeigt, wo es Unterschiede gibt.
Es wird darauf hingewiesen, dass das EJPD nicht für die verbindliche Auslegung von Straftatbeständen zuständig ist. Dies ist Sache der Rechtsprechung.
Ein Schwede, der seit vielen Jahren in der Schweiz lebt, fährt 50 km/h in einer Tempo-30-Zone. Er wird geblitzt und zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt. Fünf Jahre später stiehlt er auf dem Vorplatz des Nachbars dessen Fahrrad. Der Nachbar zeigt ihn an, das Gericht verurteilt ihn zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen. Wird er ausgewiesen?
- Durchsetzungsinitiative: Dieser Fall dürfte zu einer Landesverweisung von mindestens 5 Jahren führen. Die Geldstrafe wegen der Geschwindigkeitsübertretung (grobe Verkehrsregelverletzung, Art. 90 Abs. 2 SVG) zählt als Vorstrafe. Wenn der Schwede auf dem Grundstück des Nachbarn ein Velo stiehlt, begeht er einen "Hausfriedensbruch" (Art. 186 StGB) und "Diebstahl" (Art. 139 Ziff. 1 StGB). Er müsste ausgewiesen werden, weil diese Kombination der Straftatbestände eine Variante des sog. Einbruchdelikts darstellt, das im zweiten Deliktskatalog der Initiative enthalten ist.
- Umsetzung Ausschaffungsinitiative: Auch hier wäre eine Ausschaffung von mindestens 5 Jahren aufgrund des Deliktskatalogs möglich. Allerdings können die Gerichte auf einen Landesverweis verzichten, wenn die Ausschaffung für den Betroffenen "einen schweren persönlichen Härtefall" bedeutet und die öffentlichen Interessen nicht überwiegen.
Eine junge, in der Schweiz geborene und bestens integrierte Engländerin klettert über den Zaun, der ein Fabrikgelände umgibt. Sie sprayt ein "Grafitti" auf die Wand des Fabrikgebäudes. Der Fabrikbesitzer erstattet Anzeige, der Staatsanwalt verurteilt die junge Frau zu einer bedingten Geldstrafe. Weil die junge Frau ein Jahr zuvor mit dem Auto unterwegs war, obwohl die Gültigkeit ihres Führerausweises auf Probe abgelaufen war, erhielt sie eine bedingte Geldstrafe. Wird sie ausgewiesen?
- Durchsetzungsinitiative: Dieser Fall dürfte zu einer Landesverweisung von mindestens 5 Jahren führen. Die Geldstrafe wegen "Fahrens ohne Berechtigung" (Art. 95. Abs. 2 SVG) ist eine Vorstrafe im Sinne der Initiative. Das Übersteigen des Zaunes stellt einen "Hausfriedensbruch" dar (Art. 186 StGB) und das Besprayen des Gebäudes eine "Sachbeschädigung" (Art. 144 StGB). Diese Kombination ist im zweiten Deliktskatalog der Initiative enthalten (Variante des sog. Einbruchdelikts).
- Umsetzung Ausschaffungsinitiative: Dieser Fall führt zu keiner Landesverweisung, weil diese Kombination des sog. Einbruchsdelikts nicht im Deliktskatalog enthalten ist.
Ein Deutscher fährt nach einem Fest stark angetrunken nach Hause. Er gerät in eine Verkehrskontrolle und der Alkoholtest ergibt einen Blutalkoholgehalt von 0.9 Promille. Er wird zu einer bedingten Geldstrafe von 20 Tagessätzen verurteilt. Ein paar Jahre später beschimpft er einen Polizisten, der ihn wegen Falschparkierens büssen will, als "Arschloch". Er wird deswegen zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt. Wird er ausgewiesen?
Dieser Fall führt weder gemäss Durchsetzungsinitiative noch gemäss dem Umsetzungsgesetz des Parlaments zu einem Landesverweis. Zwar ist die Geldstrafe wegen "Missachtung des Verbots unter Alkoholeinfluss zu fahren" (Art. 91 Abs. 2 SVG) eine Vorstrafe im Sinne der Initiative. Der Straftatbestand "Beschimpfung" (Art. 177 StGB) ist aber weder in den Deliktskatalogen der Initiative noch im Umsetzungsgesetz des Parlaments enthalten.
Ein junger Secondo klettert gemeinsam mit seinen Schweizer Freunden aus jugendlichem Leichtsinn über den Zaun eines Freibades. Sie brechen in den Kiosk des Bades ein, indem sie das Schiebefenster eindrücken. Sie stehlen Esswaren, Getränke und Zigaretten zum Eigenkonsum sowie ein paar Lose. Sie werden zu bedingten Geldstrafen verurteilt1. Wird der junge Secondo ausgewiesen?
- Durchsetzungsinitiative: Durch das Übersteigen des Zaunes begeht der Secondo einen "Hausfriedensbruch" (Art. 186 StGB) und durch das Eindrücken des Schiebefensters eine "Sachbeschädigung" (Art. 144 StGB). Durch das Stehlen von Esswaren etc. zum Eigenkonsum liegt ein "Diebstahl" vor (Art. 139 StGB). Er müsste für mindestens 10 Jahre die Schweiz verlassen, weil diese Kombination der Straftatbestände im ersten Deliktskatalog der Initiative enthalten ist.
- Umsetzung Ausschaffungsinitiative: Auch hier wäre eine Ausschaffung von mindestens 5 Jahren aufgrund des Deliktskatalogs möglich. Allerdings können die Richter auf einen Landesverweis verzichten, wenn die Ausschaffung für den Betroffenen "einen schweren persönlichen Härtefall" bedeutet und die öffentlichen Interessen nicht überwiegen.
1 Hinweis: Dieser Sachverhalt basiert auf dem Urteil des Bundesgerichts vom 13. Januar 2016, 6B_105/2015.
Ein in der Schweiz aufgewachsener Amerikaner verkauft als 19-Jähriger einem Berufsschulkollegen Cannabis, das er selber angepflanzt hatte. Er wird zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt. Mit 25 Jahren verpasst er einem anderen Mann im Streit ein blaues Auge und wird – weil der Mann ihn anzeigt – mittels Strafbefehl zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt. Wird er ausgewiesen?
- Durchsetzungsinitiative: Dieser Fall dürfte zu einer Landesverweisung von mindestens 5 Jahren führen. Der Verkauf von Cannabis ist ein Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz (Art. 19 Abs. 1 BetmG). Die Geldstrafe zählt als Vorstrafe. Die "einfache Körperverletzung" (Art. 123 StGB) gehört zu den Delikten, die bei einer Vorstrafe zur Landesverweisung führen.
- Umsetzung Ausschaffungsinitiative: Kein Landesverweis, da die einfache Körperverletzung im Deliktkatalog nicht aufgeführt ist.
Ein in der Schweiz aufgewachsener und verheirateter Türke überfällt mehrere Tankstellen-Läden, bedroht das Personal und erbeutet Geld, Spirituosen und Zigaretten. Das Gericht verurteilt ihn zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 2 Jahren. Er sagt, er sei in der Schweiz verwurzelt und habe in der Türkei weder Familie noch Freunde. Wird er ausgewiesen?
- Durchsetzungsinitiative: Dieser Fall führt zu einem Landesverweis von mindestens 10 Jahren. "Raub" (Art. 140 StGB) ist im ersten Deliktskatalog der Initiative enthalten.
- Umsetzung Ausschaffungsinitiative: Auch hier dürfte es zu einem Landesverweis von mindestens 5 Jahren kommen, weil Raub ebenfalls im Deliktskatalog enthalten ist. Die Härtefallklausel dürfte hier nicht zur Anwendung kommen. Bei schweren Raubüberfällen dürften die Gerichte zum Schluss kommen, dass das öffentliche Interesse an einer Landesverweisung die persönlichen Interessen des Türken am Verbleib in der Schweiz überwiegt.
Ein Österreicher zündet einen Holzschuppen an, der komplett niederbrennt. Er wird vom Gericht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Wird er ausgewiesen?
- Durchsetzungsinitiative: Der Fall dürfte zu einer Landesverweisung von mindestens 5 Jahren führen. Das Anzünden des Holzschuppens stellt "Brandstiftung" (Art. 221 StGB) dar. Da dieser Straftatbestand im zweiten Deliktskatalog der Initiative aufgeführt ist, dürfte der Österreicher nur dann ausgewiesen werden, wenn er früher wegen irgendeinem Verbrechen oder Vergehen eine Geld- oder Freiheitsstrafe erhalten hat.
- Umsetzung Ausschaffungsinitiative: Dieser Fall führt - unabhängig von einer Vorstrafe - zu einer Landesverweisung von mindestens 5 Jahren; dies unter Vorbehalt der Härtefallklausel.
Eine seit Jahren in der Schweiz wohnhafte Portugiesin verschweigt gegenüber den Steuerbehörden Einkünfte aus einem Nebenerwerb. Die Behörde merkt dies und verurteilt sie zu einer Busse wegen Steuerhinterziehung. Wird sie ausgewiesen?
Dieser Fall führt weder gemäss Durchsetzungsinitiative noch gemäss dem Umsetzungsgesetz des Parlaments zu einem Landesverweis. Steuerhinterziehung (Art. 175 DBG) ist nicht in den Deliktskatalogen aufgeführt.
Ein seit 10 Jahren in der Schweiz wohnhafter Niederländer fälscht seinen Lohnausweis, um weniger Steuern bezahlen zu müssen. Er wird wegen Steuerbetrugs zu einer Geldstrafe verurteilt. Wird er ausgewiesen?
- Durchsetzungsinitiative: Dieser Fall führte zu keiner Landesverweisung. Der Steuerbetrug (Art. 186 DBG) ist nicht in den Deliktskatalogen aufgeführt.
- Umsetzung Ausschaffungsinitiative: Der Steuerbetrug dürfte – unter Vorbehalt der Härtefallklausel – zu einer Landesverweisung von mindestens 5 Jahren führen; dies weil der Steuerbetrug im Deliktskatalog aufgeführt ist.
Ein in der Schweiz verwurzelter Portugiese sagt als Zeuge in einem Gerichtsprozess gegen seinen Schweizer Kollegen nicht die Wahrheit, weil er diesen nicht zusätzlich belasten will. Weil der Portugiese seine Falschaussage aber noch rechtzeitig zurückzieht, wird er nur zu einer geringfügigen bedingten Geldstrafe verurteilt. Ein paar Jahre zuvor wurde der Portugiese bereits zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt, weil er ein Kontrollschild verwendet hat, das nicht für sein Motorrad bestimmt war. Wird er ausgewiesen?
- Durchsetzungsinitiative: Dieser Fall dürfte zu einer Landesverweisung von mindestens 5 Jahren führen. Indem der Portugiese im Zivilprozess falsch aussagt, liegt ein "Falsches Zeugnis" vor (Art. 307 StGB). Dieser Straftatbestand ist im zweiten Deliktskatalog der Initiative aufgeführt. Wegen der Geldstrafe, die er wegen "Missbrauch von Ausweisen und Schildern" erhalten hat (Art. 97 Abs. 1 SVG), gilt er als vorbestraft im Sinne der Initiative.
- Umsetzung Ausschaffungsinitiative: Dieser Fall führt zu keiner Landesverweisung, weil der Straftatbestand "Falsches Zeugnis" nicht im Deliktskatalog enthalten ist.
Letzte Änderung 19.05.2020